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Sinneswahrnehmung bei Autismus: Teil 2

17. August 2025

Von Professor Tony Attwood und Dr. Michelle Garnett, Übersetzung Sigrid Andersen


Im bereits veröffentlichten Blogbeitrag zu diesem Thema, Hypersensibilität bei Autismus: Teil 1, haben wir die unterschiedliche sensorische Wahrnehmung beim Hören, Fühlen, Sehen, Riechen sowie bei den Vorgängen im Inneren des Körpers beschrieben. In diesem zweiten Teil beschäftigen wir uns mit Screenings- und Messwerkzeugen für sensorische Empfindsamkeit, mit Synästhesie, emotionaler Empfindsamkeit, angenehmen sensorischen Reizen und Bewältigungsstrategien bei sensorischer Hypersensibilität.

Screenings- und Messwerkzeuge für sensorische Empfindsamkeit

Das Sensory Profile 2 wurde 2014 von Winnie Dunn festgehalten. Es beschäftigt sich mit dem sensorischen Wahrnehmungsprofil von Kindern. Zudem haben Catana Brown und Winnie Dunn 2002 ein Wahrnehmungsprofil für Jugendliche/Erwachsene veröffentlicht. Olga Bogdashina hat die zweite Auflage ihres Buches Sensory Perceptual Issues and Autism (2016) veröffentlicht, das eine 140-Punkte-Checkliste enthält, die sich am sensorischen Profil von autistischen Menschen orientiert. Ein weiteres Werkzeug ist der Sensory Perception Quotient (SPQ) (Tavassoli et al., 2014), mit dem die visuelle, auditive, taktile, Geruchs- und Geschmackswahrnehmung von autistischen Erwachsenen gemessen werden kann. Hier einige Beispiele für Punkte, die mit dem SPQ abgefragt werden:

  • Ich kann verschiedene Menschen an ihrem Geruch erkennen
  • Ich höre das Summen von elektrischen Kabeln in den Wänden
  • Ich kann ohne Sonnenbrille nicht in die pralle Sonne
  • Normalerweise bin ich die erste Person, die hört, wenn eine Fliege im Raum ist
  • Ich sehe in den meisten Umgebungen die Staubpartikel in der Luft
  • In einem zweistöckigen Gebäude höre ich überall, wenn jemand staubsaugt
  • Ich höre jede Note eines Akkords, auch dann, wenn er aus zehn Noten besteht
  • Ich rieche sofort, wenn irgendwo im Haus etwas auch nur minimal angebrannt/verbrannt riecht

 

Der Fragebogen Glasgow Sensory Questionnaire (Robertson and Simmons (2013) ermittelt

Hypersensibilität und verminderte Wahrnehmung:

  • Stellst du manchmal fest, dass du dich verletzt hast, obwohl du keinen Schmerz gespürt hast?
  • Erschrickst du stark, wenn du unerwartet ein Geräusch hörst?

 

Der Fragebogen Interoception Sensory Questionnaire (ISQ8; Suzman et al., 2021) beinhaltet acht Bereiche, die sich mit der Wahrnehmung der Vorgänge im Körperinneren beschäftigen. Einige Fragen lauten zum Beispiel:

 

  • Ich kann die Signale meines Körpers meist nur schwer deuten, es sei denn, sie sind sehr stark
  • Manchmal bemerke ich nur, dass sich an meinem Körper etwas verändert, weil andere mich darauf hinweisen
  • Die Signale meines Körpers wahrzunehmen, ist für mich sehr schwierig (beispielsweise bemerke ich nicht, dass ich gleich in Ohnmacht falle oder dass ich mich zu sehr verausgabt habe)

 

Bei den Screenings- und Messwerkzeugen für sensorische Wahrnehmung handelt es sich nicht nur Forschungswerkzeuge, sondern um praktische Hilfsmittel, die genutzt werden können, um die sensorische Wahrnehmung einer autistischen Person zu ermitteln. Versteht man mithilfe dieser Werkzeuge, wie gewisse sensorische Reize wahrgenommen werden, können die richtigen erforderlichen Anpassungen zu Hause, in der Schule, bei der Arbeit und in einem Beratungs- oder Therapieraum vorgenommen werden. Mit diesem praktischen Ansatz können Fachkräfte in den Bereichen Pädagogik und Therapie, Eltern und Betroffene informierte Entscheidungen treffen und Umgebungen schaffen, die auf die jeweiligen Bedürfnisse abgestimmt sind.

Synästhesie

Synästhesie entsteht, wenn eine Sinneswahrnehmung eine andere Sinneswahrnehmung auslöst. Die wohl bekannteste Synästhesie tritt auf, wenn ein geschriebenes Wort, ein Symbol oder ein Geräusch gedanklich sofort mit einer Farbe verbunden wird. Beispielsweise kann der Buchstabe A mit der Farbe Rot assoziiert werden. Auch Musiknoten können als Farben wahrgenommen werden, und Wörter können einen bestimmten Geschmack vorgaukeln. Beispielsweise erleben einige Menschen beim Wort „Eltern“ einen Apfelgeschmack im Mund. Bei nicht-autistischen Menschen ist Synästhesie extrem selten. Lediglich zwei bis vier Prozent der Erwachsenen erleben Synästhesie. Im Gegensatz dazu erlebt eine von fünf autistischen Personen Synästhesie (Baron-Cohen et al., 2013).

Wir haben autistische Erwachsene kennengelernt, die eine farbige „Aura“ um Menschen wahrnehmen, die je nach Persönlichkeit unterschiedlich ist. Sie zeigt ihnen an, welchen Menschen sie vertrauen können und welche sie meiden sollten.

In diesem Zusammenhang muss klar erkannt werden, dass Synästhesie zum sensorischen Profil von autistischen Menschen gehört und nichts mit psychischen Störungen zu tun hat. Einige Menschen, die Synästhesie erleben, nutzen sie für Kreativität und Kunst.

Emotionale Empfindsamkeit

Unsere klinische Erfahrung und autobiografische Berichte bestätigen, dass autistische Menschen extrem hellhörig in Bezug auf negative Emotionen anderer Personen sind. Enttäuschung, Angst oder Unruhe spüren sie sofort.  Sie scheinen eine Art „sechsten Sinn“ zu besitzen und können so „negative Energien“ wahrnehmen. Es kann beispielsweise vorkommen, dass eine autistische Person sich weigert, einen Raum zu betreten, in dem andere Menschen sind, wobei dies nicht notwendigerweise aufgrund von Problemen mit Geräuschen oder visuellen Reizen geschieht, sondern aufgrund von „negativer Energie in diesem Raum“. Bei diesem Phänomen konnten wir feststellen, dass mit dieser emotionalen Empfindsamkeit die „Stimmung“ häufig korrekt erkannt wird.

Diese emotionale Empfindsamkeit kann auch ein Grund dafür sein, dass autistische Menschen Menschenmassen meiden, da in diesen Situationen ja die Gefahr besteht, andere Personen mit schlechter Laune zu treffen und von dieser „angesteckt“ zu werden. Zudem kann emotionale Empfindsamkeit auch dazu beitragen, dass autistische Menschen Blickkontakt meiden, denn über die Augen werden auch Gefühle wahrgenommen (Smith, 2009).

Emotionale Empfindsamkeit kann bei allen Autismusformen auftreten. Robert Hughes (2003) beschrieb seinen nonverbalen autistischen Sohn Walker als „ultrasensibles emotionales Barometer, das negative Gefühle sofort registriert, ganz egal, wie gut wir glauben, sie zu verbergen.“

Und Aaron Wahl (2019) schrieb in seiner Autobiografie: „Die Gefühle anderer habe ich häufig sehr deutlich wahrgenommen, obwohl ich keinen Zugang zu meiner eigenen Gefühlswelt hatte“. Dies ist wahrscheinlich auf die Schwierigkeiten mit Interozeption bei Autismus zurückzuführen, die wir im ersten Teil des Blogbeitrags Hypersensibilität bei Autismus beschreiben.

Weitere autistische Menschen beschrieben das Phänomen wie folgt:

„Ich kann kleinste Andeutungen oder Gefühlsänderungen wahrnehmen, die andere Menschen nicht bemerken.“

„Auf Emotionen anderer Menschen reagiere ich sofort unbewusst. Das hat mir im Laufe der Jahre geholfen, auch meine eigenen Gefühle besser zu verstehen.

Autistische Menschen können von negativen Gefühlen anderer Menschen „angesteckt“ werden. Eine autistische Person berichtete: „Gefühle sind für mich ansteckendWenn jemand auf mich zukommt und mit mir sprechen möchte, gleichzeitig aber besorgt, ängstlich oder wütend ist, bin ich das plötzlich auch.“

In der Therapie helfen wir autistischen Personen also dabei, eine mentale Barriere zu schaffen. Sie können beispielsweise eine Metapher verwenden, sich ein Kraftfeld vorstellen, eine Rüstung anlegen, ein Schutzschild verwenden oder einen imaginären Regenschirm aufspannen, um bei einem „emotionalen Wolkenbruch“ „trocken“ zu bleiben.  Zudem empfehlen wir autistischen Personen, ihre Empfindsamkeit bezüglich der negativen Stimmung anderer zu erklären. Indem sie erzählen, dass der Grund für ihren zeitweiligen Rückzug oder das Meiden von Personen eine Bewältigungsstrategie aufgrund ihrer emotionalen Empfindsamkeit ist, erfahren andere Personen, dass nicht sie als Person abgelehnt werden.

Dr. Stephen Porges (2017) verwendete erstmals den Begriff Neurozeption, um die instinktive neuronale Verschaltung bei uns Menschen zu beschreiben, die uns hilft, Bedrohungen und Gefahren zu erkennen.  Neurozeption geschieht vorbewusst. Das heißt, dass wir zuerst gar nicht wahrnehmen, dass unser Körper sich auf Kampf, Flucht oder Erstarren vorbereitet. Leider führt das auch dazu, dass autistische Menschen ein höheres Risiko für Traumatisierung haben, wobei ein Trauma auch dadurch entstehen kann, dass sie sich anders/falsch fühlen oder ausgeschlossen werden. Sie entwickeln häufiger eine posttraumatische Belastungsstörung mit Symptomen wie Hypervigilanz, Misstrauen, Albträumen usw. Die emotionale Empfindsamkeit von autistischen Menschen betrifft zudem häufiger negative Emotionen und nur selten Freude oder Begeisterung. Es ist daher auch möglich, dass autistische Menschen aufgrund ihrer andersartigen neuronalen Verschaltung und/oder aufgrund großer Angst/schwerwiegenden Traumaerfahrungen eine unglaubliche sensible Neurozeption haben.

Angenehme sensorische Reize

Einige sensorische Erlebnisse können für autistische Menschen äußerst angenehm, beruhigend oder faszinierend sein (Smith & Sharp, 2013). Diese angenehmen sensorischen Reize gehören zu den positiven Aspekten von Autismus. Manchmal sind autistische Menschen besonders fasziniert von Ordnung und Symmetrie. Sie sind begeistert von Gleisen und Schwellen, Lattenzäunen, Straßenlaternen und Telegrafenmasten. Aufgrund ihrer Regelmäßigkeit und vorhersehbaren Position werden sie als äußerst beruhigend empfunden. Eine geschärfte visuelle Wahrnehmung kann dazu führen, dass Details faszinierend sind für autistische Menschen. Sie beobachten beispielsweise die Struktur einer Feder, das Drehen der Waschmaschinentrommel oder die verschiedenen Gelbtöne eines Kleidungsstückes oder Gemäldes ganz genau und lieben diese Wahrnehmung. Ein sensibles Gehör kann dazu führen, dass komplexe Musikstücke große Freude bereiten, was natürlich auch die Laune positiv beeinflusst. Ein sensibler Geruch und ein sensibler Geschmack sorgen häufig dafür, dass einige Lebensmittel besonders genossen werden und belgische Schokolade oder französischer Champagner ein wahres Hochgefühl auslösen.

Diese große Freude kann leider aber auch dazu führen, dass man sich „im Moment verliert“, wie ein Teilnehmer der Studie von Smith and Sharp beschreibt: „Ich kann gar nicht sagen, wie lange ich da gestanden habe. Ich erinnere mich nur daran, dass das Auto hinter mir gehupt und die Leute mich angeschrien haben, während ich völlig fasziniert beobachtete, wie die Ampel immer wieder umschaltete.“

Bewältigungsstrategien bei sensorischer Empfindsamkeit

Die sensorische Integrationstherapie (SIT) wurde ursprünglich in den 1970er-Jahren von der US-amerikanischen Entwicklungspsychologin A. Jean Ayres entwickelt, die damit Kindern helfen wollte, die Schwierigkeiten mit der Verarbeitung von sensorischen Reizen hatten. Die sensorischen Interventionen bestehen aus sensorischen Aktivitäten oder Erlebnissen, die Kinder dabei unterstützen sollen, die interne sensorische Verarbeitung und Selbstkontrolle zu verbessern und adaptive Bewältigungsstrategien zu entwickeln.  Dieser Ansatz wurde bei autistischen Kindern erfolgreich eingesetzt und ist daher als wissenschaftliche Methode anerkannt (Schoen et al., 2018).

Autistische Kinder und Erwachsene profitieren meist von Strategien, die von Eltern oder anderen autistischen Menschen entdeckt worden sind. Auditive Hypersensibilität kann beispielsweise mit Ohrstöpseln, Noise-Cancelling-Kopfhörern, Gehörschutz oder Musik im Hintergrund reduziert werden. Einige Geräusche können vermieden werden, zum Beispiel, wenn staubgesaugt wird, während das autistische Kind in der Schule ist.

Hypersensibilität bezüglich Lichtstärke und Art des visuellen Reizes kann abgeschwächt werden, indem draußen eine Sonnenbrille, eine Kappe mit Schild oder bei starkem Licht von oben ein Visier getragen werden. Leuchtstoffröhren können durch Glühlampen ersetzt werden.

Für autistische Kinder können Sinneswahrnehmungen angsteinflößend sein. Andere entdecken, dass eine sich stets wiederholende Handlung oder Sinneswahrnehmung als Bewältigungs- oder Fluchtmechanismus genutzt werden kann. Mary Temple Grandin beschreibt ihre Kindheit wie folgt:

„Ich war völlig fasziniert, wenn ich eine Münze oder einen Deckel auf dem Tisch tanzen lassen konnte. Dann sah und hörte ich nichts anderes. Die Menschen um mich herum verschwanden völlig, kein anderes Geräusch drang zu mir durch. Fast war es so, als ob ich vorübergehend taub geworden wäre. Sogar ein plötzliches lautes Geräusch konnte mich nicht aus meiner Welt reißen. Wenn ich aber in der „normalen Welt“ war, einer Welt mit anderen Menschen, war ich extrem geräuschempfindlich.“

Stimming kann in diesem Zusammenhang die sensorische Hypersensibilität reduzieren. Dies ist auch kürzlich in einer Studie zu repetitivem Verhalten bestätigt worden (Charlton et al., 2021; Nwaordu and Charlton, 2023).

In unseren Gesprächen mit autistischen Erwachsenen, die sensorische Hypersensibilität erleben, erklärten sie, dass die sensorischen Erfahrungen weniger belastend sind, wenn sie Beginn und Intensität der Erfahrung kontrollieren können.  Sie dürfen von einem Reiz nicht überrumpelt werden und müssen ihn jederzeit unterbrechen können.

Schließlich wissen wir heute auch, dass sensorische Hypersensibilität und Angst einander beeinflussen. Je größer die Angst, desto empfindsamer ist man gegenüber Sinnesreizen und umgekehrt. Therapien, mit denen die sensorische Hypersensibilität abgeschwächt werden kann, führen dazu, dass auch die Angst abnimmt, genauso wie Therapien zur Angstbewältigung auch die sensorische Hypersensibilität reduzieren können.

 

Anmerkung der Übersetzerin Sigrid Andersen:

Auf meiner Website https://autismusinfo.com/tools-links-frageboegen haben wir sensorische Fragebögen auf Deutsch entwickelt, die derzeit in der Verifizierung sind.

Diese dürfen gerne kostenlos heruntergeladen und ausgefüllt an kontakt@autismusinfo.com geschickt werden, ich werte sie im Rahmen meiner Verifizierung und meines Non-Profit-Projektes kostenlos und anonymisiert aus.

 

Quellen:

Mit freundlicher Genehmigung von Prof. Tony Attwood und Dr. Michelle Garnett: https://attwoodandgarnettevents.com/category/attwood-and-garnett-blog/

 

Baron-Cohen et al. (2013) Autism 4

Bogdashina, O (2016). Sensory Perceptual Issues in Autism and Asperger Syndrome. London, Jessica Kingsley Publishers

Brown, C & Dunn W. (2002). The Adolescent/Adult Sensory Profile Pearson Assessments

Charlton et al. (2021). Research in ASD 89 101864

Dunn W. (2014). Sensory Profile 2 Pearson Assessments

Hughes R (2003). Running with Walker Jessica Kingsley Publishers

Nwaordu and Charlton (2023) Journal of Autism and Developmental Disabilities 53

Robertson and Simmons (2013) Journal of Autism and Developmental Disorders 43

Schoen et al (2018) Autism Research 12

Smith, A. (2009) The Psychological Record 59 489–510

Smith and Sharp (2013) Journal of Autism and Developmental Disorders 43

Suzman et al. (2021) Molecular Autism 12:42

Tavassoli et al. (2014) Molecular Autism 5:29

Wahl A. (2019) Ein Tor zu eurer Welt KNAUR

 

 

 
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