Von Professor Tony Attwood und Dr. Michelle Garnett, Übersetzung Sigrid Andersen
Eines der häufigsten traumatischen Erlebnisse für autistische Menschen ist Mobbing. Da viele autistische Menschen sich isoliert fühlen, besteht für sie ein größeres Risiko, gemobbt zu werden. Und das kann zu schwerwiegendem traumatischem Stress führen, denn sozialer Rückhalt als integraler Aspekt zur Erholung von psychischen Traumata wäre enorm wichtig (Ozbay et al., 2007). Wir wissen heute außerdem, dass auch autistische Kinder in integrativen Schulen oder Sonderschulen Mobbing erleben.
Mobbing
Heute erkennen wir, dass autistische Menschen von anderen häufiger als nicht-autistische Menschen als „Zielscheibe“ für Mobbing gewählt werden. Leider werden diese Erlebnisse in der Definition von Trauma kaum berücksichtigt. Besonders relevant ist dies aber für komplexe posttraumatische Belastungsstörungen, die ja durch wiederholte traumatische Erlebnisse ausgelöst werden. Bei einer Studie von Law et al. (2013) fanden die Forschenden heraus, dass in einer Zeitspanne von einem Monat 66 % der autistischen Kinder gemobbt wurden und dieses Mobbing häufig zu emotionalem Trauma und sogar körperlichen Verletzungen geführt hat. Schroeder et al. (2014) ermittelte, dass 40 % der autistischen Kinder täglich gemobbt wurden, 33 % zwei- bis dreimal pro Woche.
Autistische Menschen erleben viele Arten von Mobbing täglich. Dazu gehören:
Die Personen, die mich online gemobbt haben, waren unerbittlich und ließen mich nie in Ruhe. Ich wollte mich umbringen, weil ich das Gefühl hatte, dass ich ihnen nicht entkommen konnte, aber ich hatte Angst, dass ich nicht einmal das schaffen würde, weil ich mich als ein so erbärmlicher Verlierer gefühlt habe. Ich habe mich nirgendwo sicher gefühlt. Also schnitt ich mich an Stellen, die niemand sehen konnte. Der körperliche Schmerz war nie so groß wie der emotionale Schmerz, den ich empfand, wenn ich gemobbt wurde.
Es ist also leider möglich, dass das eigene Zuhause kein Zufluchtsort vor Mobbing ist, wenn das Mobbing auch online bzw. auch durch Geschwister oder Familienmitglieder erfolgt.
Mobbing melden
Autistische Menschen zögern häufig, diese Mobbingvorfälle zu melden, da dies ja bedeutet, dass sie das traumatische Erlebnis noch einmal gedanklich durchleben müssen. Lieber verleugnen sie es. Viele autistische Menschen leiden außerdem an Alexithymie. Das bedeutet, dass es für sie schwierig ist, Gedanken und Gefühle in Worte zu fassen. Dadurch ist es natürlich schwer, die Vorfälle, Gedanken und Gefühle in diesem Zusammenhang zu erklären.
Folgen von Mobbing für autistische Menschen traumatische Erlebnisse
Autistische Kinder fragen sich häufig, warum sie als Ziel ausgewählt werden und nicht andere Kinder, warum jemand gerade ihnen so etwas absichtlich antut und wie sie mit dem ständigen Mobbing umgehen können. Wir wissen heute, dass Mobbing für autistische Kinder äußerst dramatisch ist. Es führt außerdem aber auch dazu, dass verstärkt maskiert wird. Die Kinder unterdrücken also ihre autistischen Wesenszüge in der Schule und unter Gleichaltrigen. Viele Kinder maskieren, um Freunde zu finden und dazuzugehören. Die Auswirkungen von Mobbing werden häufig erst sichtbar, wenn es zu psychischen Problemen wie Depression, Suizidgedanken, Selbstverletzung, Angststörungen und Essstörungen kommt. Bei unseren Therapien erleben wir, dass diese psychischen Probleme bis ins späte Erwachsenenalter anhalten, und dass Mobbing leider auch nach der Schulzeit nicht endet, sondern häufig am Arbeitsplatz erneut vorkommt.
Wie das ständige Absprechen der eigenen Wahrnehmung bei Autismus zu Trauma führt
Der Autismusforscher Gordon Gates (2019) beschreibt, wie es dadurch, dass die Wahrnehmung von autistischen Menschen immer wieder nicht geglaubt oder berücksichtigt wird und innerhalb der Gesellschaft eine Stigmatisierung von Autismus herrscht, zu Traumata kommt. Gates erläutert, dass dieses ständige Absprechen von Gefühlen und Wahrnehmung genauso traumatisch sein kann wie andere traumatische Erlebnisse. Häufig wird Trauma als Erleben einer Katastrophe definiert. Das zugrunde liegende Leid aber liegt darin, dass man sich körperlich und/oder psychisch bedroht fühlt und daraus ein Bedürfnis nach Selbstschutz entwickelt. Das ständige Absprechen von Gefühlen und eigener Wahrnehmung kann also dazu führen, dass die Betroffenen ununterbrochen auf der Hut vor möglichen Gefährdungen sind und bei jedem kleinsten Auslöser getriggert werden.
Das Gefühl, verurteilt, negativ bewertet und von anderen abgelehnt zu werden, mit der klaren Botschaft „Du gehörst nicht dazu“, sowie der Zwang, sich anzupassen zu müssen (Ableismus), verstärken die Schwierigkeiten beim Regulieren von Emotionen nur noch weiter. Es entsteht ein Stigma, die Betroffenen erleben sich selbst als anders, falsch und nicht akzeptiert. Noch komplexer und anhaltender wird ein Trauma, wenn die Betroffenen schließlich sich selbst die Schuld geben und die Vorfälle immer wieder passieren. Es kann sich eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung mit Dissoziation entwickeln. Die Betroffenen fliehen aus der Realität. Eine solche Stigmatisierung kann bei autistischen Menschen also durchaus zu einer PTBS führen.
Traumatherapie bei autistischen Menschen
Es gibt hauptsächlich zwei Behandlungsansätze für autistische Menschen, die ein Trauma erlebt haben: Traumafokussierte kognitive Verhaltenstherapie CBT): Bei dieser Therapie geht es um das Regulieren von Emotionen, sanfte, schrittweise Expositionstherapie, kognitive Verarbeitung, die Erstellung eines Sicherheitsplans sowie die Generalisierung und Beibehaltung dieser Strategie (Andrzejewskil et al., 2024; Stack & Lucyshyn, 2019). EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing – Desensibilisierung und Verarbeitung durch Augenbewegung): Diese Methode war erfolgreich in der Behandlung von Traumata bei autistischen Erwachsenen (Lobregt-van Buuren et al., 2019) und wurde auch mit Anpassungen an die autistischen Merkmale bei autistischen Kindern angewendet (Clarke & Darker Smith, 2024; Van Diest & Marguerite, 2022).
Buchempfehlungen
Folger and Phelps Eds. Trauma, Autism and Neurodevelopmental Disorders Springer 2018
Morgan and Donahue Living with PTSD on the Autism Spectrum Jessica Kingsley Publishers 2021
Gates Trauma, Stigma and Autism Jessica Kingsley Publishers 2019
Quellen:
Mit freundlicher Genehmigung von Prof. Tony Attwood und Dr. Michelle Garnett: https://attwoodandgarnettevents.com/category/attwood-and-garnett-blog/
Andrzejewskil et al 2024) Examining Therapeutic Alliance Among Autistic Youth and Their Caregivers throughout Trauma-Focused Cognitive Behavioral Therapy. Paper presented at INSAR, Melbourne, May 2024
Berkowitz, (2022). Autism, 26(8), 1987-1998
Bernier et al. (2024). The Intersection Between Autism and Trauma. Paper presented at INSAR, Melbourne, May 2024
Cappadocia et al. (2012) Journal of Autism and Developmental Disorders 42
Clarke & Darker Smith (2024) Neurodiversity-affirming EMDR therapy with Autism and ADHD. Chapter in: The Oxford Handbook of EMDR, Oxford Library of Psychology
Dahiyal et al. (2024). Supporting Interdisciplinary Care for High-Needs Individuals at the Intersection of Intellectual/Developmental Disabilities and Mental Health. Paper presented at INSAR, Melbourne, May 2024
Haruvi-Lamdan, Horesh and Golan (2018). Psychological Trauma: Theory, Research, Practice and Policy 10, 290-299
Hoover & Romero (2019). Journal of Autism and Developmental Disorders 49 1686-1692
Kerns et al. (2015). Journal of Autism and Developmental Disorders 45
Kerns et al. (2022) Autism 26.
Law et al. (2013) Journal of Developmental and Behavioral Pediatrics
Lim and Young (2024) Investigating the Relationship between Autism and Post-Traumatic Stress Disorder in Young Adults. Paper presented at INSAR, Melbourne, May 2024.
Lobregt-van Buuren et al (2019) Journal of Autism and Developmental Disorders 49,
Schroeder et al. (2014). Journal of Autism and Developmental Disorders 44
Stack & Lucyshyn (2019). Journal of Autism and Developmental Disorders 49
Van Diest & Marguerite (2022). Journal of EMDR Practice and Research 16.
Van Roekel et al. (2010). Journal of Autism and Developmental Disorders 40
Wright et al. (2018). Journal of Child and Adolescent Trauma 11