Von Prof. Tony Attwood und Dr. Michelle Garnett – Übersetzung: ProZ-Probono-Netzwerk
Werden autistische Kinder häufiger gemobbt?
Viele der autistischen Kinder und Jugendlichen, die wir als Fachpersonen behandeln, haben in der Schule häufig Mobbing durch Gleichaltrige erlebt, und wir sind sehr besorgt über die psychologischen Folgen. Untersuchungen über die Häufigkeit von Mobbingerlebnissen bei autistischen Kindern haben ergeben, dass 40 % täglich und weitere 33 % zwei- bis dreimal pro Woche gemobbt werden (Schroeder et al. 2014). Im Gegensatz dazu werden nur 10 % der nicht-autistischen Kinder gemobbt (Olweus 1993).
Warum sind autistische Kinder häufiger von Mobbing betroffen?
Bei nicht-autistischen Kindern gibt es zwei Arten von Zielen: passive und proaktive. Ein passives Ziel ist in der Regel ein Kind, das ängstlich ist, ein geringes Selbstwertgefühl hat, schüchtern ist, oft alleine ist und keinen großen Freundeskreis hat. So könnte man ein autistisches Kind beschreiben, das introvertiert ist. Ein proaktives Ziel möchte sich mit Gleichaltrigen austauschen, hat aber schlechte soziale Fähigkeiten und wird von Gleichaltrigen als störend empfunden. So könnte man ein extrovertiertes autistisches Kind beschreiben.
Ein weiterer Faktor, der dazu beitragen kann, dass autistische Kinder mehr als ihre Altersgenossen gemobbt werden, ist unter anderem ein niedriger sozialer Status. Beispielsweise, dass sie wenige oder keine befreundeten Kinder haben, die ihnen beistehen. Außerdem kann es vorkommen, dass sie nicht gut einschätzen können, welchen Charakter und welche Absicht Kinder haben, die mobben. Daher fällt es ihnen schwer, dies zu erkennen und zu vermeiden.
Arten von Mobbing
Mobbing kann sich in vielerlei Hinsicht äußern, z. B.:
Ein Beispiel für Cybermobbing und seine Folgen wird im folgenden Zitat veranschaulicht.
Die Personen, die mich online gemobbt haben, waren unerbittlich und ließen mich nie in Ruhe. Ich wollte mich umbringen, weil ich das Gefühl hatte, dass ich ihnen nicht entkommen konnte, aber ich hatte Angst, dass ich nicht einmal das schaffen würde, weil ich mich als ein so erbärmlicher Verlierer gefühlt habe. Ich habe mich nirgendwo sicher gefühlt. Also schnitt ich mich an Stellen, die niemand sehen konnte. Der körperliche Schmerz war nie so groß wie der emotionale Schmerz, den ich empfand, wenn ich gemobbt wurde. (McKibbin 2016, Seite 61)
Wo findet Mobbing statt?
Mobbende wollen nicht von einer Lehrkraft erwischt und bestraft werden. Daher finden die meisten Mobbinghandlungen da statt, wo die Wahrscheinlichkeit, dass der Vorfall entdeckt wird, geringer ist. Mobbing ist dort am wahrscheinlichsten, wo es keine Aufsicht durch Erwachsene gibt, z. B. in den Fluren und auf dem Schulweg. Es kann auch in der Nähe oder in der Wohnung durch Kinder von Nachbarn, befreundete Personen und Verwandte passieren. Mobbingversuche kommen jedoch am häufigsten in der Schule vor. Die meisten Mobbinghandlungen erfolgen verdeckt, nur 15 % werden im Klassenzimmer von einer Lehrkraft beobachtet, und nur 5 % auf dem Schulhof (Olweus 1993; Rigby 1996).
Woran man erkennt, dass ein autistisches Kind gemobbt wird
Es kann physische Anzeichen geben, wie verlorene oder beschädigte Gegenstände, zerrissene Kleidung und medizinische Anzeichen wie Blutergüsse, Verletzungen, Magen- und Kopfschmerzen und Einschlafprobleme. Psychologisch drücken sich Symptome meistens als gesteigerte Angst aus, insbesondere vor der Schule, als Depressionen, Schulverweigerung und gewalttätige Reaktionen auf Mobbing, die zu einer Suspendierung führen. Manchmal fehlt auch völlig das Vertrauen in Gleichaltrige. Das geht sogar bis hin zu Paranoia, einer Veränderung des besonderen Interesses und einer Faszination für Waffen und Gewaltfilme, mit Zeichnungen von Vergeltung und Vergeltung.
Die psychologischen Auswirkungen von Mobbing
Mobbing verstärkt die Symptome von Angst, führt zu Selbstmordgedanken, Selbstverletzung und Depression (Ung et al. 2016), wie dieses Zitat zeigt:
In der Sekundarschule war das Mobbing für mich am schlimmsten. Die Personen, die mich gemobbt haben, waren gnadenlos – sie machten sich über mich lustig und hänselten mich im Klassenzimmer – sogar vor den Lehrkräften. Und wenn ich die „Vertrauensperson“ im Raum um Hilfe bat und anflehte, etwas zu tun, damit es aufhört, lachte sie gemeinsam mit meinen Mobbenden – was die Sache noch schlimmer und meine Tage noch unerträglicher machte. Als ich 14 Jahre alt war, versuchte ich, mich umzubringen und landete im Krankenhaus. Erst dann stimmten meine Eltern endlich zu, mich zu Hause unterrichten zu lassen. Bis heute bin ich davon überzeugt, dass mir das das Leben gerettet hat. (McKibbin 2016, Seite 67.)
Die abfälligen Kommentare von Mobbenden führen bei einem autistischen Kind zu einer Verschlimmerung des negativen Selbstbewusstseins, weil sie unerbittlich sind und ihnen von befreundeten Personen nicht widersprochen wird. Schließlich ist das Kind selbst davon überzeugt, dass es dumm oder verrückt ist, oder dass es niemals eine Freundschaft erleben wird. Angst und Depression sind bei autistischen Kindern, die nicht gemobbt werden, geringer (Schroeder et al. 2014). Wenn also ein Kind Mobbing erlebt, muss dies unter Umständen bei der psychologischen Behandlung von Angst und Depression berücksichtigt werden.
Das autistische Kind versteht möglicherweise nicht, warum es gemobbt wird und warum jemand ihm absichtlich Kummer bereitet. In der Folge grübelt es über die Mobbinghandlungen nach, spielt die Ereignisse in seinem Kopf nach und versucht, insbesondere beim Einschlafen, die Beweggründe des Mobbenden zu ergründen. Das gemobbte Kind kann nicht vergeben oder vergessen, solange es nicht verstanden hat, warum und dass es keine Schuld trägt.
Die Schule kann zu einem „Kriegsgebiet“ werden, und Mobbingvorfälle können zu Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) führen. Mobbing kann auch dazu beitragen, autistische Züge zu verschleiern (Cage und Troxell-Whitman 2019), wie im folgenden Zitat aus der Studie über Masking mit einer Teilnehmerin ersichtlich wird. Sie erklärt, warum sie versucht hat, ihren Autismus zu verstecken: Ich wollte dem Mobbing und dem Spott entgehen, den ich erlebt habe, wenn ich nicht maskiert habe.
Mobbing ist ebenfalls ein Faktor, der zur Entwicklung einer Essstörung beiträgt (Brede et al. 2020). Die Forschung ergab, dass autistische und nicht-autistische Jugendliche, die eine Essstörung entwickelten, häufig über Schwierigkeiten in Freundschaften und Einsamkeit, Mobbing und Missbrauch sprachen, die sich auf ihr Essverhalten auswirkten.
Die Reaktion autistischer Kinder auf Mobbing
Möglicherweise wissen sie nur begrenzt, wie sie auf Mobbing reagieren können und neigen dazu, früher als nicht-autistische Gleichaltrige mit Aggression und Gewalt zu reagieren. Wenn ihre Erfahrungen nicht ernst genommen werden, nehmen sie „das Gesetz in die eigene Hand“, was tragische Folgen haben kann.
Strategien zur Verringerung der Häufigkeit und bestimmter Arten von Mobbing
Es muss ein gesamtschulischer Ansatz verfolgt werden, der das gemobbte Kind, die Schulverwaltung, die Lehrkräfte, die Fachleute, die Eltern, die anderen Kinder und das mobbende Kind einbezieht. Für diese Strategie müssen bestimmte Verhaltensweisen vereinbart werden. Das Personal muss ausgebildet werden und das Konzept gerecht, konsequent und mit angemessenen Konsequenzen umsetzen, die sich an der jeweiligen Verantwortung orientieren. Im Folgenden werden zehn Strategien für autistische Kinder kurz erläutert.
Bei den Veränderungen hier geht es eher darum, dass sich alle verändern. Nicht nur das autistische Kind sollte sich verändern.
Eltern können überlegen, wie sie der Schule mitteilen, dass sie sich Sorgen machen, Vorfälle mit Mobbing aufzeichnen und die Schule und psychologische Fachkräfte darüber informieren, wie das Kind mit Mobbing umgeht und welche Auswirkungen das Mobbing auf die psychische Gesundheit des Kindes hat. Sie könnten auch in Erwägung ziehen, das Kind in einem Kampfsportkurs anzumelden, z. B., um das Selbstvertrauen zu stärken, anstatt Gewalt als Lösung zu verstehen. Man könnte auch die Schule wechseln, was dazu beitragen kann, die Häufigkeit von Mobbing zu verringern. Eine weitere von den Eltern und dem Kind in Betracht gezogene Option ist der Unterricht zu Hause.
Quellenangaben:
Mit freundlicher Genehmigung von Prof. Tony Attwood und Dr. Michelle Garnett: https://attwoodandgarnettevents.com/category/attwood-and-garnett-blog/
Cage and Troxell-Whitman (2019) Journal of Autism and developmental Disorders 49, 1899-1911.
Gray, C. and Williams J. (2006) No Fishing Allowed: Reel in Bullying Arlington, Future Horizons
McKibben K. (2016) Life on the Autism Spectrum: A Guide for Girls and Women. Jessica Kingsley Publishers
Olweus, D. (1993) Bullying at school, Cambridge: Blackwell
Rigby, K. (1996) Bullying in schools. London, Jessica Kingsley Publishers
Schroeder et al (2014) Journal of Autism and Developmental Disorders 44
Ung et al (2016) Research in ASD 32, 70-79