Ein Tropfen, der alles verändert.

Autismus und PTBS

15. Juni 2025

Von Emma Hinze, Professor Tony Attwood und Dr. Michelle Garnett – Übersetzung: Sigrid Andersen

 

Wenn man etwas äußerst Schmerzhaftes erlebt, das die Psyche stark belastet und überfordert, bezeichnen wir das als traumatisch. Dabei können die auslösenden Erlebnisse völlig unterschiedlich sein und von inneren, persönlichen Konflikten bis zu lebensbedrohlichen Ereignissen reichen. Je nach persönlicher, sensorischer Sensibilität und Kommunikation können dabei Ereignisse auch völlig unterschiedliche Reaktionen auslösen. Es ist wichtig, anzumerken, dass traumatische Erlebnisse recht häufig vorkommen, aber nicht alle zu einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) führen. PTBS ist eine besondere, psychiatrische Erkrankung, die durch länger anhaltende Symptome wie zwanghafte Erinnerungen an das Trauma (z. B. in der Form von Albträumen), aktive Vermeidung von Triggern, die mit dem Trauma in Verbindung gebracht werden, starke Stimmungsschwankungen und dauerhaft hohe Alarmbereitschaft gekennzeichnet ist. Die Wahrscheinlichkeit, eine PTBS zu entwickeln, steigt mit jeder weiteren Exposition in Bezug auf das traumatische Erleben an. Besonders zwischenmenschliche Traumata wie ein körperlicher Angriff oder Mobbing können aufgrund der persönlichen Komponente viel schwerwiegender und invasiver sein (Suliman et al., 2009; Briere et al., 2016).

 

Erinnerungen und Trauma bei PTBS

Wenn man PTBS verstehen möchte, sollte man sich damit beschäftigen, wie das Gehirn traumatische Erinnerungen verarbeitet. Das Dual-Prozess-Modell von Brewin et al. (1996) geht davon aus, dass traumatische Erinnerungen verschlüsselt und in zwei verschiedenen Systemen gespeichert werden: im verbal zugänglichen System (verbally accessible memory, VAM) und im situativ zugänglichen System (situationally accessible memory, SAM). Das VAM integriert traumatische Erinnerungen in die laufende persönliche Geschichte einer Person und erleichtert so eine kohärente Erzählung des Ereignisses, was die Erholung vom Trauma ohne Entwicklung einer PTBS begünstigt. Das SAM hingegen verarbeitet die sensorischen und emotionalen Aspekte des Traumas, was oft zu heftigen, unfreiwilligen Erinnerungen führt, die als Flashbacks bekannt sind.  Bleiben traumatische Erinnerungen im SAM verborgen, entwickeln sich häufiger PTBS-Symptome wie starke negative Gefühle, extrem hohe Alarmbereitschaft und Flashbacks.

Bei autistischen Menschen kann die sensorische Hypersensibilität dazu führen, dass die sensorische und emotionale Verarbeitung der Erinnerungen zu noch heftigeren und länger anhaltenden Flashbacks führt. Darüber hinaus können Probleme mit dem Arbeitsgedächtnis und der sozialen Verarbeitung die Integration von traumatischen Erinnerungen in einen zusammenhängenden Ablauf erschweren. Und das wiederum beeinträchtigt das Verarbeiten und Speichern dieser Erinnerung so, dass Erholung nur schwer möglich ist. Wenn wir diese neurokognitiven Unterschiede verstehen, verstehen wir auch die Erkrankung Trauma in Verbindung mit sensorischen und sozialen Erfahrungen besser. Viele nicht-autistische Menschen empfinden solche nämlich nicht im selben Ausmaß als traumatisch.

 

Erhöhtes Traumarisiko bei autistischen Menschen

Die Schwierigkeiten, die autistische Menschen bei der zwischenmenschlichen Kommunikation und der sensorischen Verarbeitung erleben, können das Risiko auch für atypische traumatische Erlebnisse erhöhen. Beispielsweise können Probleme beim Interpretieren von zwischenmenschlichen Signalen und im Umgang mit sozialen Interaktionen häufig zu Missverständnissen, Mobbing und sozialer Ausgrenzung führen – alles potenziell traumatische Erlebnisse, die autistische Menschen viel häufiger erleiden als gleichaltrige, nicht-autistische Menschen (Haruvi-Lamdan et al., 2018; Hoover, 2015; Kerns et al., 2015). Und genau solche Erlebnisse tragen in Bezug auf autistische Menschen erheblich zu einem höheren Traumarisiko bei.

 

Erhöhtes PTBS-Risiko bei autistischen Menschen

Gedächtnisprobleme

Autistische Menschen berichten häufig von Problemen mit dem Arbeitsgedächtnis und dem Alltagsgedächtnis, was für die Verarbeitung von traumatischen Erlebnissen und für die Ausprägung von PTBS-Symptomen von entscheidender Bedeutung ist. Diese Schwierigkeiten beeinflussen nämlich die Art und Weise, wie traumatische Erinnerungen verarbeitet und abgerufen werden, und dies wiederum erschwert die Entschlüsselung von zusammenhängenden, verbal zugänglichen Erinnerungen an das Trauma. Viele autistische Menschen konzentrieren sich auf Details, wobei die Verarbeitung von Ereignissen sensorisch stark geprägt wird. Dadurch werden emotionale und sensorische Komponenten bei traumatischen Erinnerungen noch verstärkt. Diese Tatsache kann dazu führen, dass traumatische Erinnerungen äußerst heftig erlebt und einfacher getriggert werden können, was auch das Risiko für die Entstehung von PTBS-Symptomen wie Flashbacks und intrusive Gedanken erhöht.

Mehr potenziell traumatische Erlebnisse

Autistische Menschen empfinden viel mehr Erlebnisse als traumatisch. Es muss sich nicht zwangsläufig um typische, wie in der DSM-5 – Kriterium A für eine PTBS – als traumatisierend kategorisierte Ereignisse handeln. Diese größere Menge an potenziell traumatischen Erlebnissen, die über die in der DSM definierten, traumatischen Ereignisse hinausgehen, können bei autistischen Menschen durchaus PTBS-Symptome auslösen (Rumball et al., 2021). Die Neigung, verschiedene negative Erfahrungen als traumatisch wahrzunehmen, erfordert spezielle Diagnose- und Behandlungsstrategien, die auf die autistische Bevölkerung zugeschnitten sind. Die Betroffenen profitieren von Ansätzen, die ihre einzigartige sensorische und kognitive Verarbeitung berücksichtigen.

Andere neurologische Verarbeitung von Emotionen

Die Wechselwirkung zwischen PTBS und Autismus verdeutlicht neurobiologische und kognitive Überschneidungen, die sich darauf auswirken, wie autistische Menschen Symptome erleben und ausdrücken.  Die Andersartigkeit der neuronalen Schaltkreise, insbesondere in der Amygdala und im präfrontalen Kortex, sind entscheidend für die Regulierung von Emotionen und den Umgang mit Angst und Bedrohungen.  Die Amygdala, die eine wichtige Rolle bei emotionalen Reaktionen spielt, ist bei autistischen Menschen häufig hyperreaktiv, was zu verstärkten Reaktionen auf Stress und potenziell traumatische Ereignisse führt. Im Gegensatz dazu zeigt der präfrontale Kortex, der die Amygdala-Aktivität reguliert und für Exekutivfunktionen und emotionale Kontrolle von Bedeutung ist, oft eine verminderte Aktivität oder Konnektivität bei PTBS und Autismus.

Welche Rolle Hormone spielen

Sowohl bei PTBS als auch Autismus funktioniert die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Achse) anders. Sie ist für die Stressreaktion des Körpers von entscheidender Bedeutung. Bei autistischen Menschen wird diese Achse chronisch oder übermäßig aktiviert, was zu einer untypischen Ausschüttung von Cortisol führt. Der Körper kann diesen Stress nicht mehr effektiv abbauen (Taylor & Corbett, 2014). Durch diese Besonderheit werden Stressmomente häufig intensiver und überfordernd erlebt, wodurch das Risiko einer PTBS nach traumatischen Erlebnissen steigt.

Unterschiedliche sensorische und zwischenmenschliche Verarbeitung

Die neurobiologische Ausprägung von Autismus, die sich in verstärkter sensorischer Hypersensibilität und Unterschieden bei der Verarbeitung von zwischenmenschlichen Signalen manifestiert, erschwert wichtige Interaktionen. Autistische Menschen erleben häufig eine Welt, in der sensorische Reize verstärkt und Kommunikationssignale anderer Menschen schwer zu interpretieren sind, was ihre Anfälligkeit für traumatische Erfahrungen erhöht (Haruvi-Lamdan et al., 2018; Hoover, 2015).  Wenn die Integration persönlicher Erfahrungen in eine kohärente Erzählung erschwert ist, werden Verarbeitung und Erinnerungen an traumatische Erlebnisse beeinflusst. Häufig sind die Erlebnisse an das Trauma dann viel intensiver und verstörender (Rumball et al., 2021).

 

Quellenangaben:

Mit freundlicher Genehmigung von Prof. Tony Attwood und Dr. Michelle Garnett: https://attwoodandgarnettevents.com/category/attwood-and-garnett-blog/

 

Haruvi-Lamdan N., Horesh D., & Golan O. (2018). PTSD and autism spectrum disorder: Co-morbidity, gaps in research, and potential shared mechanisms. Psychological Trauma: Theory, Research, Practice, and Policy, 10(3), 290–299. https://doi.org/10.1037/tra0000298

Ilen, L., Delavari, F., Feller, C., Zanoletti, O., Sandi, C., & Schneider, M. (2024). Diurnal cortisol profiles in autistic adolescents and young adults: Associations with social difficulties and internalizing mental health symptoms. Autism Research : Official Journal of the International Society for Autism Research, 17(8), 1601–1615. https://doi.org/10.1002/aur.3184

Rumball, F., Brook, L., Happé, F., & Karl, A. (2021). Heightened risk of posttraumatic stress disorder in adults with autism spectrum disorder: The role of cumulative trauma and memory deficits. Research in Developmental Disabilities, 110, 103848. https://doi.org/10.1016/j.ridd.2020.103848

Hindera, O. (2023). 33.4 PTSD and ASD: Illuminating Diagnostic Overshadowing. Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry, 62(10), S51. https://doi.org/10.1016/j.jaac.2023.07.293

Kildahl, A. N., Bakken, T. L., Iversen, T. E., & Helverschou, S. B. (2019). Identification of Post-Traumatic Stress Disorder in Individuals with Autism Spectrum Disorder and Intellectual Disability: A Systematic Review. Journal of Mental Health Research in Intellectual Disabilities, 12(1-2), 1–25. https://doi.org/10.1080/19315864.2019.1595233

Briere J, Agee E, Dietrich A. Cumulative trauma and current posttraumatic stress disorder status in general population and inmate samples. Psychol Trauma. 2016 Jul;8(4):439-46. doi: 10.1037/tra0000107. Epub 2016 Jan 11. PMID: 26752099.

Brewin, C. R., Dalgleish, T., & Joseph, S. (1996). A dual representation theory of posttraumatic stress disorder. Psychological Review, 103(4), 670-686.

Haruvi-Lamdan, N., Horesh, D., & Golan, O. (2018). PTSD and autism spectrum disorder: Co-morbidity, gaps in research, and potential shared mechanisms. Psychological Trauma: Theory, Research, Practice, and Policy, 10(3), 290-299.

Hoover DW, Kaufman J. Adverse childhood experiences in children with autism spectrum disorder. Curr Opin Psychiatry. 2018 Mar;31(2):128-132. doi: 10.1097/YCO.0000000000000390. PMID: 29206686; PMCID: PMC6082373.

Kerns, C. M., Newschaffer, C. J., & Berkowitz, S. (2015). Traumatic childhood events and autism spectrum disorder. Journal of Autism and Developmental Disorders, 45(11), 3475-3486.

Lai, M. C., Lombardo, M. V., & Baron-Cohen, S. (2014). Autism. The Lancet, 383(9920), 896-910.

McManus, S., Meltzer, H., Brugha, T. S., Bebbington, P. E., & Jenkins, R. (2009). Adult psychiatric morbidity in England, 2007: Results of a household survey. The NHS Information Centre for Health and Social Care.

Rumball F, Happé F, Grey N. Experience of Trauma and PTSD Symptoms in Autistic Adults: Risk of PTSD Development Following DSM-5 and Non-DSM-5 Traumatic Life Events. Autism Res. 2020 Dec;13(12):2122-2132. doi: 10.1002/aur.2306. Epub 2020 Apr 22. PMID: 32319731.

Suliman S, Mkabile SG, Fincham DS, Ahmed R, Stein DJ, Seedat S. Cumulative effect of multiple trauma on symptoms of posttraumatic stress disorder, anxiety, and depression in adolescents. Compr Psychiatry. 2009 Mar-Apr;50(2):121-7. doi: 10.1016/j.comppsych.2008.06.006. Epub 2008 Aug 23. PMID: 19216888.

Taylor JL, Corbett BA. A review of rhythm and responsiveness of cortisol in individuals with autism spectrum disorders. Psychoneuroendocrinology. 2014 Nov;49:207-28. doi: 10.1016/j.psyneuen.2014.07.015. Epub 2014 Jul 22. PMID: 25108163; PMCID: PMC4165710.

 

 

 
de_DEDeutsch