Von Professor Tony Attwood und Dr. Michelle Garnett – Übersetzung: Sigrid Andersen
Weihnachten findet zwar nur an einem Tag im Jahr statt, aber die Vorfreude und Vorbereitungen auf Weihnachten können mehrere Monate andauern. Läden, Reklame und Gespräche erinnern autistische Menschen und ihre Familie ständig an vergangene Weihnachtsfeste und daran, dass Weihnachten autistische Menschen überfordern und ermüden kann.
Wir haben in der Therapie häufig die Weihnachtsvorbereitungen mit den Familien besprochen und verstehen die vielen Facetten von autistischen Menschen, die bei der Organisation von Weihnachten und beim Weihnachtsfest selbst berücksichtigt werden müssen. Unter anderem spielen die Erwartungen anderer, sensorische Erlebnisse und der Umgang mit Veränderungen, Ungewissheit und Stress hierbei eine große Rolle.
Die Erwartungen anderer
Familienzusammenkünfte an Weihnachten bringen viele Aktivitäten und Erwartungen von anderen Menschen mit sich, die autistischen Familienmitgliedern vielleicht detailliert erklärt werden müssen. Darunter fallen die Anwesenheit von entfernten Verwandten, die für eine autistische Person vielleicht wie Fremde sind, die Erwartung, alle zu begrüßen und zu umarmen und damit klarzukommen, dass plötzlich so viele Menschen auf engem Raum sind.
Und dann wäre da auch noch die Tradition, Geschenke zu schenken und zu öffnen. Vielleicht wird erwartet, dass man zuschaut, während andere Geschenke öffnen, und dass man sich dankbar zeigt, wenn man Geschenke erhält, auch wenn man über ein Geschenk enttäuscht ist. Carol Gray hat die Social Stories (Gray 2015) entwickelt. Mit diesen erklärt sie die gesellschaftlichen Regeln. Darunter befinden sich auch Social Stories für autistische Kleinkinder, bei denen es um Weihnachten geht:
Wir feiern ein großes Familienfest
Warum Geschenke wichtig sind
Warum die Menschen Geschenke verpacken
Wie man Geschenke öffnet
Bei manchen Geschenken sind wir enttäuscht
Viele autistische Menschen mögen keine Überraschungen. Die Eltern autistischer Kinder müssen daher das Öffnen der Geschenke anders gestalten, um Überraschungen zu vermeiden. Dies wird auch durch eine Stimme in den National Autistic Society Christmas Tips deutlich: „Letztes Jahr hat mein Sohn sein größtes Geschenk selbst ausgesucht. Er durfte überprüfen, dass es auch das richtige Geschenk war, als es ankam. Erst dann wurde es eingepackt. Er war glücklich, weil er wusste, dass er sicher das richtige Geschenk erhalten würde und dass es keine Überraschungen geben würde. Der Tag begann daher sehr entspannt.“
Eine weitere Herausforderung kann darin bestehen, sich in der emotionalen Atmosphäre zurechtzufinden und auf die ausgelassene Stimmung zu reagieren, wenn man sich selbst nicht so fröhlich fühlt. Natürlich kann man maskieren und fröhlich spielen, aber das ist unglaublich anstrengend, bringt nur noch mehr Stress und führt dazu, dass man kürzer am Fest teilnehmen kann. Dazu kommt noch die Angst, vielleicht nicht angemessen mit entfernten Verwandten zu interagieren, abgelehnt und verspottet zu werden.
Strategien für den Umgang mit den Erwartungen anderer an Weihnachten:
• Einen Zeitplan mit Erklärung für die geplanten Aktivitäten erstellen und erklären, wer an diesen Aktivitäten teilnehmen wird.
• Früh zum Fest erscheinen, wenn noch wenige Familienmitglieder vor Ort sind und es relativ ruhig ist, und früh wieder abfahren.
• Ein Elternteil sollte die autistische Person genau beobachten. Bei Anzeichen von Stress sollte regelmäßig während der Feier die Möglichkeit bestehen, neue Energie zu tanken und sich an einem ruhigen Ort zu erholen.
• Klären Sie sämtliche Familienmitglieder über die Sichtweise der autistischen Person auf und erläutern sie, wie sie in Bezug auf Umarmungen, Begrüßungen, Bedürfnis nach Abstand und sensorische Hypersensibilität helfen können sowie welche Geschenke sicher Freude machen werden.
Sensorische Erfahrungen
Blinkende und flackernde Lichter und Kerzen zu Weihnachten sind für nicht-autistische Familienmitglieder wahrscheinlich wundervoll, können aber von autistischen Personen als unangenehm oder störend empfunden werden. Vielleicht könnte man einen Kompromiss bei der Intensität der sensorischen Reize finden.
Es kann für autistische Menschen auch schwierig sein, Weihnachtslieder mit der Familie zu singen, wenn laut oder falsch gesungen wird. Manche autistische Menschen verfügen über perfektes Gehör, was in diesem Fall dann besonders schmerzhaft ist für sie. Rücksicht genommen werden sollte außerdem in Bezug auf den Lärmpegel allgemein, plötzliche laute Geräusche und überschwänglich laute Gefühlsausbrüche.
Der folgende Bericht einer autistischen Person beschreibt die auditive Hypersensibilität beim Weihnachtsfest perfekt: „Ich hatte solche Angst, als plötzlich ein Luftballon zerplatzt ist, dann auch noch eine Tischbombe losging und ein Knallbonbon Krach machte. Ständig fürchtete ich, dass mich wieder ein lautes Geräusch erschrecken würde."
Darüber hinaus sollte man sich überlegen, was man zu Weihnachten serviert. Das Essen sollte sensorisch akzeptabel sein für die autistische Person, denn Erschöpfung in sozialen Situationen und Angst werden durch sensorische Hypersensibilität noch verstärkt.
Umgang mit Veränderungen und Überraschungen
Vor Weihnachten gibt es einige Veränderungen im Wohnraum. Der Weihnachtsbaum kommt, vielleicht werden noch die Möbel verschoben, dann werden Baum und Wohnraum dekoriert. Diese Veränderungen können für autistische Menschen, die eine stets gleiche Umgebung bevorzugen, beunruhigend sein. Sie müssen rechtzeitig vor diesen Veränderungen erfahren, wann und wie diese stattfinden werden, und sie benötigen Unterstützung im Umgang mit den Veränderungen.
Die Sichtweise der Eltern
Für autistische Menschen und ihre Eltern können Familienfeiern Stress bedeuten. Die Eltern müssen auf die Reaktion der autistischen Person auf soziale und sensorische Erfahrungen achten und gleichzeitig ihre Pflichten als Gäste oder Gastgebende erfüllen. Häufig sind für die Eltern die Bedürfnisse des autistischen Kindes am wichtigsten. Sie gehen bezüglich ihres eigenen Erlebens und der Verpflichtungen entfernter Verwandter Kompromisse ein. Oft machen sie sich auch Sorgen, dass Familienmitglieder sie für das Verhalten des autistischen Kindes verantwortlich machen und ihren Erziehungsstil vor allen kritisieren könnten. Vielleicht haben sie ständig das Gefühl, „im Dienst“ sein zu müssen. Sie können sich nicht entspannen und die Familienzusammenkunft nicht auf dieselbe Weise wie andere Familienmitglieder genießen (Moorthy, Carlstedt and Fischl, 2023). Es könnte ihnen eine große Hilfe sein, wenn andere Familienmitglieder auch die Betreuung und Beaufsichtigung zeitweise übernehmen können.
Weihnachten für autistische Erwachsene
Bei einer Weihnachtsfeier mit den Mitarbeitenden gelten andere soziale Normen und Erwartungen als beim Weihnachtsfest mit der Familie. Autistischen Erwachsenen kann es eine große Hilfe sein, die Abläufe einer Weihnachtsfeier zu kennen. Mitarbeitende können außerdem Anleitungen und Unterstützung bieten.
Autistische Erwachsene haben den Vorteil, große Familienzusammenkünfte zu Weihnachten meiden zu können, wie auch die nachfolgende Aussage verdeutlicht: „Ich freue mich, heuer Weihnachten hier bei mir feiern zu können. Nur mit den Familienmitgliedern, die ich ausgewählt habe. Nicht mit der Familie, in die ich geboren wurde.“
Fazit
Weihnachten kann für autistische Kinder und Erwachsene eine schwierige Zeit sein. Indem der Ablauf der Feierlichkeiten vorab bekannt ist, Erwartungen abgestimmt und sensorische Reize reduziert werden, nimmt der Stress für die Betroffenen ab. Sie können erfolgreich interagieren, sodass sich alle Familienmitglieder noch lange gerne an das Weihnachtsfest zurückerinnern.
Quellen:
Mit freundlicher Genehmigung von Prof. Tony Attwood und Dr. Michelle Garnett: https://attwoodandgarnettevents.com/category/attwood-and-garnett-blog/
Gray C. (2015) The New Social Story Book: Revised and Expanded Arlington, Future Horizons
Moorthy, Carlstedt and Fischl (2023) Australian Occupational Therapy Journal, 70 500-513.