Von Professor Tony Attwood und Dr. Michelle Garnett, Übersetzung Sigrid Andersen
Sich um ein autistisches Kind zu kümmern, kann belastend sein, auch für die Paarbeziehung. Willkürlich Befragte gehen davon aus, dass die Scheidungsrate bei Eltern autistischer Kinder mindestens 80 % beträgt. Das ist allerdings ein Vorurteil, denn eine Studie mit über 900 Familien mit mindestens einem autistischen Kind haben gezeigt, dass die Scheidungsrate keineswegs höher ist (Freedman et al. 2012). Diese Studie ergab, dass 64 % der Eltern autistischer Kinder miteinander verheiratet waren, während 65 % der Eltern nicht-autistischer Kinder miteinander verheiratet waren. Falls es zu einer Scheidung kam, war laut Studie die Betreuung des Kindes kein entscheidender Faktor für eine solche. Die Studie ergab außerdem, dass das Risiko für eine Scheidung in den ersten Lebensjahren des Kindes am höchsten war. Auch die ersten Jahren nach einer Diagnose können belastend sein. Vielleicht ist es schwer, die Diagnose und was Frühförderungsmaßnahmen für die Beziehung bedeuten, zu akzeptieren. Im Laufe der Zeit finden die Familien aber einen Weg, gut damit umzugehen. Die Situation ist nicht mehr so belastend. Dennoch zeigen Studien, dass Eltern autistischer Kinder häufiger von Depression, Angststörungen, Stress und Burnout betroffen sind als Eltern nicht-autistischer Kinder (Chen et al., 2024). Depressionen kommen bei Müttern häufiger als bei Vätern vor, wahrscheinlich deshalb, weil Mütter immer noch häufiger Betreuungsaufgaben übernehmen. All diese Faktoren können einen Einfluss auf die Ehe haben (Freedman et al. 2012).
Bei einer Scheidung kann es zu Sorgerechts- und Besuchsrechtsstreitigkeiten kommen, wobei die besonderen Bedürfnisse des autistischen Kindes häufig berücksichtigt werden müssen. Hier einige besondere Herausforderungen:
Das Beste für das Kind
- Vor Gericht werden in Bezug auf Sorgerecht und Besuchsrecht die Interessen des Kindes in den Mittelpunkt gestellt. Bei autistischen Kindern gehören auch eine besondere Beachtung der entwicklungsbezogenen und emotionalen Bedürfnisse zu den Interessen des Kindes.
- Manchmal bittet das Gericht Fachpersonen um eine Begutachtung (beispielsweise aus den Gebieten Psychologie oder Entwicklung), um die Bedürfnisse des Kindes besser verstehen und so fundierte Entscheidungen in Bezug auf Sorge- und Besuchsrecht treffen zu können.
Möglichkeiten und Fähigkeiten der Eltern
- Bei Sorgerechtsentscheidungen ist die Fähigkeit der jeweiligen Elternteile, die Bedürfnisse des autistischen Kindes zu verstehen und ihnen gerecht zu werden, entscheidend. Dazu gehören folgende Faktoren:
- Die Autismusdiagnose wird akzeptiert
- Der Elternteil kann das Kind emotional und im Alltag unterstützen.
- Der Elternteil weiß, welche Therapie- und Bildungsmaßnahmen das Kind braucht.
- Der Elternteil kann dem Kind Routine bieten und mit dem Verhalten des Kindes proaktiv umgehen.
- Der Elternteil ist bereit, in Bezug auf die Betreuung des Kindes mit Fachleuten zusammenzuarbeiten.
- Eltern sind sich vielleicht nicht einig, wie sie auf die einzigartigen Bedürfnisse des Kindes reagieren sollen. Sie verstehen sie vielleicht auch nicht oder wissen nicht, wie sie sich effizient mit relevanten Anlaufstellen in Bezug auf Unterstützung austauschen können.
Routine und Struktur
- Viele autistische Kinder brauchen Routine, Beständigkeit und Struktur. Werden Routineabläufe ständig geändert (weil sie beispielsweise eine Woche bei einem Elternteil, die nächste Woche beim anderen Elternteil leben), kann dies als unglaublich belastend empfunden werden.
- Das Gericht legt bei autistischen Kindern also eventuell Wert auf die Beibehaltung der Routineabläufe mit einem einzigen festen Wohnsitz bei einem Elternteil und einem strukturierten Besuchsplan für den anderen Elternteil.
Anforderungen bezüglich Therapien und Unterstützung
- Viele autistische Kinder brauchen spezielle, zeitintensive Therapien und Unterstützung (beispielsweise Logopädie, Ergotherapie oder verhaltenstherapeutische Maßnahmen). Von den Eltern wird erwartet, dass sie diese Unterstützungs- und Therapiemaßnahmen organisieren und aktiv an ihnen teilnehmen.
- Vor Gericht spielt es daher eventuell eine Rolle, wie informiert die Eltern in Bezug auf verschiedene Therapie- und Unterstützungsangebote sind.
- Es wird wahrscheinlich von beiden Elternteilen erwartet, dass sie dem Kind Zugang zu den notwendigen Unterstützungs- und Therapieangeboten bieten können. Wenn ein Elternteil mit dem Therapie- und Unterstützungsangebot für das Kind nicht Schritt halten kann, hat dies eventuell Einfluss auf das Sorgerecht.
- Bei Entscheidungen in Bezug auf Therapie, Behandlungen und Unterstützung ist möglicherweise Mediation oder eine Vorstellung vor Gericht notwendig, besonders dann, wenn es bei der Scheidung zu Streitigkeiten kommt.
Anforderungen in Bezug auf die Bildung
- Manche autistische Kinder besuchen Schulen für Kinder mit besonderen Bedürfnissen, die nur an bestimmten Standorten zu finden sind. Die Eltern oder der Elternteil mit Sorgerecht ist diesbezüglich gefordert, eine Schule auszuwählen und individualisierte Bildungsprogramme zu organisieren.
- Ein häufiger Wechsel der Schule kann sich negativ auswirken. Daher wird vor Gericht meist verstärkt auf Stabilität beim Bildungsangebot geachtet.
Kommunikation und Zusammenarbeit der Eltern
- Sich gemeinsam um ein autistisches Kind zu kümmern, erfordert häufig viel gute Kommunikation und Zusammenarbeit. Die Eltern müssen Termine abgleichen, Therapien vereinbaren, sich um die Ausbildung kümmern und bei Erziehungsansätzen Konsistenz zeigen.
- Wenn die Kommunikation zwischen den Eltern nicht so gut klappt, schlägt das Gericht eventuell ein gemeinsames Sorgerecht vor, bei dem allerdings einem Elternteil mehr Rechte in Bezug auf Entscheidungen eingeräumt werden.
- Wenn nur ein Elternteil Entscheidungen in Bezug auf therapeutische Maßnahmen trifft, ist dies häufig positiv für das autistische Kind. Eine andere Entscheidung wird vor Gericht nicht im Interesse des Kindes sein.
Sensorische Hypersensibilität und Umgebung
- Autistische Kinder sind eventuell sensorisch hypersensibel. Auch das muss bei Sorgerechtsentscheidungen berücksichtigt werden. Die Umgebung des Kindes im Zuhause der Elternteile muss autismusfreundlich, ruhig und den jeweiligen Bedürfnissen angepasst sein.
- Ist ein Wohnraum sensorisch überreizt oder bietet dieser keine Anpassungen an die Bedürfnisse des autistischen Kindes, ist er wahrscheinlich auch nicht als Wohnraum für das Kind geeignet.
Beziehungen zu Geschwistern
- Die Beziehung des autistischen Kindes zu seinen Geschwistern kann ebenfalls für das Sorgerecht entscheidend sein. Das Gericht wird wahrscheinlich berücksichtigen, ob eine Trennung von den Geschwistern das autistische Kind negativ beeinflusst, besonders dann, wenn das Kind von den Geschwistern emotional oder praktisch im Alltag unterstützt wird.
Besuchsrecht
- Das traditionelle Besuchsrecht (beispielsweise jedes zweite Wochenende oder mit Übernachtungen) muss für autistische Kinder eventuell angepasst werden. Die vereinbarten Zeiten müsse an die einzigartigen Verhaltens- und Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes angeglichen werden.
- Manche autistische Kinder haben Schwierigkeiten, in zwei verschiedenen Wohnräumen zu leben, sodass darauf geachtet werden muss, dass Veränderungen so selten wie möglich vorkommen. Dies kann sich entscheidend auf die Lebensqualität des Kindes auswirken.
Vormund
- Eventuell wird vom Gericht ein Vormund gestellt für das Kind, um die Interessen des Kindes während der Anhörungen zu vertreten. Die Rolle des Vormundes besteht darin, auf der Grundlage der Bedürfnisse des Kindes Empfehlungen auszusprechen und sicherzustellen, dass die Bedürfnisse vor Gericht erkannt werden.
Finanzielles
- Zusätzlich können finanzielle Verpflichtungen ausgesprochen werden (beispielsweise, dass ein Elternteil die Therapie, Hilfsmittel oder medizinische Kosten übernimmt). Wie diese Kosten genau aufgeteilt werden, wird bei der Verhandlung des Sorgerechts entschieden.
- Eventuell werden Unterhaltszahlungen an die langfristigen Bedürfnisse des Kindes angepasst, besonders dann, wenn zu erwarten ist, dass das Kind auch im Erwachsenenalter noch Unterstützung benötigen wird.
Einfluss der Langzeitbetreuung
Manche autistische Kinder müssen auch als Erwachsene noch unterstützt und betreut werden. In einem solchen Fall wird auch das bei Sorgerecht und Unterhalt berücksichtigt. Es wird außerdem festgelegt, wer in Zukunft Entscheidungen bezüglich der Pflege und Unterstützung sowie der Wohnsituation des Kindes treffen darf.
Praktische Schritte für Eltern:
- Einschätzung durch Fachleute einholen:Ziehen Sie professionelle Einschätzungen durch Fachleute in Bezug auf die besonderen Bedürfnisse des Kindes in Erwägung.
- Bauen Sie ein „Schutzschild“ für Ihr Kind:Ganz egal, wie angespannt oder verhärtet die Fronten sein mögen: Schützen Sie Ihr Kind so weit wie möglich vor diesen Emotionen.
- Erarbeiten Sie einen detaillierten Erziehungsplan:Berücksichtigen sie sämtliche Aspekte in Bezug auf Betreuung und Erziehung, Schule, Therapie, Unterstützung, medizinische Versorgung und Betreuung in den verschiedenen Wohnräumen.
- Seien Sie flexibel:Machen Sie sich bewusst, dass sich die Bedürfnisse Ihres Kindes im Laufe der Zeit vielleicht ändern können. Eventuell müssen dann auch Sorge- und Besuchsrecht angepasst werden.
- Ziehen Sie Mediation oder Coaching in Erwägung:Mediation oder Coaching kann Eltern dabei helfen, Konflikte zu lösen und ihre Kommunikation zu verbessern, sodass die Bedürfnisse des Kindes stets an erster Stelle stehen.
- Machen Sie sich bewusst,dass sich autistische Verhaltensweisen vielleicht in jedem Haushalt anders äußern.
- Erlebt das autistische Kind Spannungen und Streitsder Eltern mit, kann dies äußerst belastend sein. Autistische Kinder sind besonders sensibel in Bezug auf die Gefühlslage der Eltern. Eventuell ordnet das Gericht an, Streits vor dem autistischen Kind zu unterlassen oder bei Konflikten Supervision durch unbeteiligte Dritte in Anspruch zu nehmen.
- Autistische Kinder müssen außerdem angemessen auf Besuchebeim anderen Elternteil vorbereitet werden und benötigen Unterstützung, wenn dieser Besuch endet.
Referenzen:
Quellen:
Mit freundlicher Genehmigung von Prof. Tony Attwood und Dr. Michelle Garnett: https://attwoodandgarnettevents.com/category/attwood-and-garnett-blog/
Chen et al. (2024) Factors predicting depressive symptoms in parents of children with autism spectrum disorder in eastern China. BMC Public Health. 2024 Jan 18;24(1):226. doi: 10.1186/s12889-024-17731-7.
Freedman, B. H., Kalb, L. G., Zablotsky, B., & Stuart, E. A. (2012). Relationship status among parents of children with autism spectrum disorders: A population-based study. Journal of Autism and Developmental Disorders, 42, 539-548.