Ein Tropfen, der alles verändert.

Erkenntnisse zu Autismus – Teil 1: Der historische Kontext

11. November 2024

Von Professor Tony Attwood, Übersetzung: ProZ-Probono-Netzwerk

In dieser vierteiligen Serie blickt Professor Tony Attwood auf eine 50-jährige Karriere im Bereich Autismus zurück. Im ersten Teil dieser Serie erörtert er Autismus im historischen Kontext. Im zweiten Teil teilt er seine Beobachtungen darüber mit, wie verschiedene Personen mit Autismus umgehen und welche unterschiedlichen Ergebnisse sie mit diesen Bewältigungsmechanismen erzielen. Im dritten Teil beschreibt er Erkrankungen, die häufig gemeinsam mit Autismus auftreten, und im letzten Teil geht er auf die Prognose bei Autismus ein.

Im Jahr 1971 habe ich (Tony Attwood) mein erstes Jahr des Psychologiestudiums in England abgeschlossen. Während der Sommerferien arbeitete ich als Freiwilliger an einer Sonderschule in meiner Heimatstadt Birmingham. In dieser Sonderschule begegnete ich zum ersten Mal Autismus und wie sich Autismus bei zwei kleinen Kindern äußerte. Russel war 7 Jahre, Sarah fünf Jahre alt. Sie waren beide agil und aufmerksam, aber stumm und spielten lieber alleine. Keines der beiden Kinder nutzte Kommunikation mit Gesten als Ersatz für die fehlende Sprache, und beide reagierten extrem sensibel auf bestimmte Geräusche. Sie reagierten zudem häufig verzweifelt auf Veränderungen in ihrem Tagesablauf und auf die sozialen, sensorischen, kognitiven und kommunikativen Erfahrungen im Klassenzimmer und auf dem Spielplatz. Sie schienen in einer eigenen Welt zu leben, in die andere Kinder nicht eingeladen waren. Ich war jedoch entschlossen, mit ihnen in Verbindung zu treten und die Welt aus ihrer Perspektive zu sehen. Allmählich und vorsichtig wurde ich als vorübergehender, aber willkommener Besucher in ihrer Welt akzeptiert.

Diese Erfahrung war emotional und intellektuell tiefgreifend, und ich beschloss, dass meine Karriere als Psychologe darin bestehen würde, Autismus zu erforschen und zu verstehen. Im Herbst 1971 kehrte ich an die Universität zurück, entschlossen, alles über Autismus zu lesen, was es gab. Es gab nur etwa hundert veröffentlichte Zeitschriftenartikel über Autismus und vielleicht zwei oder drei akademische Bücher und Biografien, die von Eltern autistischer Kinder geschrieben worden waren. Innerhalb weniger Wochen hatte ich die gesamte einschlägige Literatur in englischer Sprache gelesen. Inzwischen werden jedes Jahr mehr als 7.000 Zeitschriftenartikel über Autismus veröffentlicht, und es gibt über 70.000 Forschungsarbeiten über Autismus. Heute kann ich mit der Explosion der wissenschaftlichen Erkenntnisse über Autismus nicht mehr Schritt halten und neige dazu, die Artikel über Autismus zu lesen, die mich interessieren, die Artikel meiner Kolleginnen und Kollegen sowie von Koryphäen auf dem Gebiet Autismus.

 

Das Bild von Autismus im Wandel

In den frühen 1970er-Jahren wurde Autismus als eine Art Schizophrenie betrachtet, die durch eine fehlerhafte Erziehung verursacht wurde, und die Behandlung bestand in einer Psychoanalyse des Kindes und seiner Mutter. In den späten 1970er-Jahren fingen Forschungsstudien und Fachkräfte an, dieses Bild zu ändern. Autismus wurde im Zuge dessen als eine neurologische Entwicklungsstörung mit einem ausgeprägten Profil sozialer, kognitiver, sprachlicher und sensorischer Fähigkeiten betrachtet, die bereits im frühen Säuglingsalter sichtbar werden können. Dies sind auch Autismussymptome, nach denen wir bei einer diagnostischen Beurteilung suchen. Sie bilden die Kernstruktur unserer formalen Diagnoseinstrumente wie der Diagnostischen Beobachtungsskala für Autistische Störungen (ADOS). Durch meine umfangreiche Erfahrung als Diagnostiker habe ich die formalen Diagnoseinstrumente mit Aktivitäten ergänzt, mit denen Autismussymptome wie Schwierigkeiten mit der „Theory of Mind“, Selbstbild, Alexithymie und Interozeption sowie Bewältigungsstrategien bei Autismus, die sich auf das klinische Bild und die Prognose auswirken, untersucht werden.

In den frühen 1970er-Jahren waren wir noch der Meinung, dass es sich bei Autismus um eine seltene, aber auffällige und schwere Behinderung handelt. Das autistische Kind sollte eine Sonderschule besuchen und schließlich in eine Einrichtung eingewiesen werden, weil ein hoher Unterstützungsbedarf bei der Bewältigung des Alltags besteht und es herausforderndes Verhalten an den Tag legt.

In den 1980er-Jahren begannen wir, das Autismusspektrum und die vielfältigen Prognosen zu erforschen. Wir beobachteten auch Kinder und Erwachsene, die in der frühen Kindheit schwer und auffällig autistisch waren, aber die Fähigkeit erworben hatten, fließend zu sprechen und sich zu unterhalten, die intellektuelle Fähigkeiten im durchschnittlichen und überdurchschnittlichen Bereich hatten und eine Regelschule besuchten. Sie schienen entschlossen, sich von ihren Eltern abzunabeln, strebten eine Vollzeitbeschäftigung an und gingen vielleicht sogar eine langfristige Beziehung ein. Sie hatten eine subtilere Form des Autismus mit einer ganz anderen Prognose entwickelt. Lorna Wing in London erkannte, dass diese Entwicklung der Fähigkeiten eher einem Profil entsprach, das in den Autismusbeschreibungen von Hans Asperger in Österreich zu erkennen war, und nicht so sehr dem Profil von Leo Kanner in den Vereinigten Staaten. Sie verwendete 1981 erstmals den nach ihm benannten Begriff Asperger-Syndrom, und ihre Kollegin und meine Doktormutter Uta Frith übersetzte seine ursprüngliche Autismusbeschreibung ins Englische.  Diese kam durch die Kinder zustande, die er in seiner Klinik in Wien behandelte. Ich wurde Mitglied einer kleinen Gruppe von psychologischen und psychiatrischen Fachkräften in London, die eine neue Autismusart erforschten: das Asperger-Syndrom. Wir entdeckten, dass es Kinder mit dem von Hans Asperger beschriebenen Fähigkeitsprofil gab, die in der frühen Kindheit nie Anzeichen von schwerem Autismus gezeigt hatten. Zwei Punkte führten zur Entstehung des Begriffs Asperger-Syndrom.

Da man ursprünglich von einer schweren Behinderung bei Autismus ausging, wurde auch die Häufigkeit nur auf etwa 1 von 2.500 Kindern geschätzt. Wir nahmen das Asperger-Syndrom ins Autismusspektrum auf und erkannten, dass Autismus ein sehr großes Spektrum mit vielen verschiedenen Symptomen ist. Aktuell schätzen die Centers for Disease Control in den USA die Häufigkeit auf etwa 1 von 54 Kindern. Autismus wird von medizinischem Fachpersonal, Schulen, Unternehmen und der Öffentlichkeit immer häufiger erkannt. Eine neuere Entwicklung ist die Repräsentation von autistischen Menschen in Fernsehsendungen und Filmen, und es gibt viele populäre Autobiografien, die von autistischen Erwachsenen wie Temple Grandin geschrieben wurden.

In den letzten 50 Jahren haben sich die Terminologie und die Diagnosekriterien geändert, da wir nun Autismus viel besser verstehen. Der Begriff Asperger-Syndrom wurde im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders 2013 durch den Begriff Autismus-Spektrum-Störung Stufe 1 ersetzt. (Anmerkung der Übersetzerin: Im europäischen Raum wurde 2022 der Begriff Asperger-Syndrom der ICD-10 durch die Autismus-Spektrum-Störung der ICD-11 ersetzt, obwohl auch heute noch beide ICDs gültig sind und eingesetzt werden.) Es gibt drei Stufen von Autismus, die auf dem Unterstützungsbedarf basieren. Ich bin der Meinung, dass wir die Terminologie und die diagnostischen Kriterien ändern können, die Menschen und ihre täglichen Herausforderungen und Fähigkeiten bleiben aber dieselben.

Zu meinen jüngsten Forschungsarbeiten gehören der Entwurf und die Entwicklung von Screening-Instrumenten zur Ermittlung der Autismussymptome bei Mädchen und Frauen. Ursprünglich ging man davon aus, dass die Aufteilung auf Jungen und Mädchen bei autistischen Kindern einem Verhältnis von 4:1 entsprach, neuere Forschungen allerdings zeigen, dass das Verhältnis tatsächlich mindestens 2:1 ist. Mädchen und Frauen können sich in einer Weise an Autismus anpassen, die eine diagnostische Bewertung verzögert.

 

Über Tony Attwood

 Prof. Tony Attwood PhD ist ein international anerkannter klinischer Psychologe, Pädagoge und Autor. Tony Attwood, über den kürzlich in der ABC-Sendung Australian Story berichtet wurde, ist eine der weltweit führenden Koryphäen auf dem Gebiet Autismus. Sein Buch „Das Asperger-Syndrom: Das erfolgreiche Praxis-Handbuch für Eltern und Therapeuten“ ist ein internationaler Bestseller und wegweisend auf diesem Gebiet.

Mit freundlicher Genehmigung von Prof. Tony Attwood und Dr. Michelle Garnett: https://attwoodandgarnettevents.com/category/attwood-and-garnett-blog/

 

 

 
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