Ein Tropfen, der alles verändert.

Erkenntnisse zu Autismus – Teil 2: Bewältigungsstrategien

13. November 2024

– von Professor Tony Attwood, Übersetzung: ProZ-Probono-Netzwerk


In dieser vierteiligen Serie blickt Professor Tony Attwood auf eine 50-jährige Karriere im Bereich Autismus zurück. Im ersten Teil unserer Serie von letzter Woche hat Tony Attwood Autismus im historischen Kontext erörtert. In diesem zweiten Blogbeitrag teilt er seine Beobachtungen darüber mit, wie verschiedene Personen mit Autismus umgehen und welche unterschiedlichen Ergebnisse sie mit diesen Bewältigungsstrategien erzielen. Im dritten Teil beschreibt er Erkrankungen, die häufig zusammen mit Autismus auftreten, und im letzten Teil geht er auf die Prognose bei Autismus ein.

Eines der zentralen Merkmale von Autismus ist nach den DSM 5-Diagnosekriterien (Anmerkung der Übersetzerin: und der ICD-10 und ICD-11) ein Defizit in der Kommunikation mit anderen Menschen und der sozialen Interaktion. Die sozialen und zwischenmenschlichen Aspekte des Lebens stellen für ein autistisches Kind oder einen autistischen Erwachsenen eine Herausforderung dar. Wie kann sich eine autistische Person also an diese Herausforderungen anpassen? Meine (Tony Attwood) umfangreiche klinische Erfahrung legt nahe, dass es – je nach Persönlichkeit und der Möglichkeit, Bewältigungsstrategien zu entwickeln – vier mögliche Anpassungsformen gibt: Introvertiertheit, Extrovertiertheit, Masking und Kompensation.


Introvertiertheit
Die am leichtesten erkennbare Anpassung ist eine In-sich-Gekehrtheit bei Kindern, die man als Introvertiertheit bezeichnen könnte. Kinder und später Erwachsene reduzieren das soziale Miteinander auf ein Minimum oder vermeidet es aktiv, da sie erkennen, dass soziale Interaktionen komplex sind, überfordern und Stress auslösen. Diese Art der Anpassung fällt auf und kennzeichnet sich dadurch, dass die Person sich dafür entscheidet, wenn möglich allein zu sein, um ungestört das zu tun, was sie tun möchte. Sie fühlt sich dabei nicht unbedingt einsam. Die Person findet im Alleinsein neue Energie, da das Zusammensein mit Menschen für sie manchmal verwirrend und anstrengend ist.
Wir stellen jedoch zunehmend fest, dass autistische Kinder mit einer extrovertierten Persönlichkeit häufig sehr motiviert sind, Kontakte zu knüpfen. Für diese Menschen gibt es zwei mögliche Anpassungen, die soziale Kontakte erleichtern.


Extrovertiertheit
Extrovertierte autistische Menschen suchen aktiv nach sozialen Kontakten. Leider haben autistische Kinder und Erwachsene aufgrund der Schwierigkeiten mit der „Theory of Mind“ häufig Probleme, die subtile nonverbale Kommunikation bei einer sozialen Interaktion zu erkennen, die den Fluss, die Gegenseitigkeit und die Intensität des sozialen Austauschs reguliert und mäßigt. So wird ihr soziales Verhalten leider manchmal als aufdringlich, intensiv oder sogar irritierend empfunden. Eine Metapher zur Beschreibung dieser Anpassung an den Autismus ist die eines Autofahrers, der die Verkehrssignale (nonverbale Kommunikation) nicht sieht oder sich nicht an die Verkehrsregeln (soziale Regeln und Kontext) hält. Sie sind nicht in der Lage, soziale Situationen richtig zu deuten und werden daher für unangemessenes Verhalten kritisiert.


Obwohl sie also sehr motiviert sind, Kontakte zu knüpfen und Freunde zu finden, kann es vorkommen, dass Gleichaltrige diese Freundschaften vorzeitig beenden. Das hat zur Folge, dass die autistische Person bitter enttäuscht ist, dass Gespräche, Freundschaften und Beziehungen nur von kurzer Dauer sind und es schwierig ist, beliebt zu werden. Wenn eine Freundschaft zustande kommt, kann die autistische Person besitzergreifend wirken und die neue Freundschaft mit einer Intensität idealisieren, die überwältigend ist. Endet Freundschaft oder Beziehung, ist die autistische Person manchmal sehr verzweifelt, fühlt sich verlassen und unverstanden.


Masking
Autistische Menschen, die maskieren, sind sich ihrer Schwierigkeiten bewusst, nonverbale Kommunikation zu lesen sowie Freundschaften zu finden und zu halten. Mit dieser Einsicht distanzieren sie sich zunächst von ihren Mitmenschen, beobachten aber sehr genau ihre sozialen Interaktionen und das soziale Verhalten der Menschen im Allgemeinen. Sie versuchen, soziale Systeme oder Regeln zu erlernen und diese sozialen Regeln zu erkennen, zu interpretieren und einzuhalten. Ihre sozialen Fähigkeiten werden eher durch intellektuelle Analyse als durch Intuition erreicht. Auf diese Weise können sie ihre sozialen Schwierigkeiten wirkungsvoll kaschieren. Es wird eine soziale „Maske“ angelegt. Wir wissen, dass 70 Prozent der Erwachsenen mit einer Autismus-Spektrum-Störung der Stufe 1 in sozialen Situationen konsequent maskieren. Die Forschung zeigt, dass autistische Frauen in der Regel besser in der Lage sind, zu maskieren als Männer, und dass sie diese Anpassungsstrategie in vielerlei sozialen Situationen anwenden. Einige männliche Autisten wenden diese Anpassungsstrategie jedoch ebenfalls an.


Autistische Mädchen im Teenageralter maskieren Autismus möglicherweise sehr effektiv, um nicht aufzufallen und werden deshalb nicht für eine diagnostische Beurteilung in Betracht gezogen. Es können Kommentare fallen wie „Du bist zu sozial, um autistisch zu sein“. Jeden Tag in der Schule (aber wahrscheinlich nicht zu Hause) spielen sie die Rolle eines typischen Schulmädchens. Eigentlich hätten sie für diese soziale Schauspielleistung im Kontakt zu den anderen Kindern der Schule einen Oscar verdient. Ihre scheinbare Kontaktfreudigkeit ist wirkungsvoll, aber oberflächlich und anstrengend. Zudem fehlt es ihnen an sozialer Identität, da sie in Wirklichkeit ja nicht die Personen sind, die die anderen in ihnen sehen. Masking kann eine Autismusdiagnose bis in die späten Teenager- oder Erwachsenenjahre hinauszögern. Und so werden leider auch die angemessene Unterstützung und Therapie erst spät gewährt.


In sozialen Situationen kann es außerdem zu Versagensängsten kommen. Es fühlt sich für sie fast so an, als ob sie ständig „auf der Bühne“ stünden. Wie Aschenputtel auf dem Ball können sie den Schein für eine Weile aufrechterhalten, sind dann aber völlig ausgelaugt und müssen nach Hause zurückkehren, um sich in der Einsamkeit zu erholen. Wahrscheinlich grübeln sie in ihrem Zimmer dann noch über ihre soziale Leistung nach. Dieser unglaubliche Stress kann sich schließlich zu Angststörungen oder Depressionen und Selbstverletzungsverhalten entwickeln.


Viele autistische Menschen maskieren, weil sie das innere und wahre Ich eigentlich gar nicht so richtig kennen. Einige erwachsene Frauen äußern sogar: „Ich weiß ja gar nicht, wer ich bin“. Dies kann zu einem fehlenden Identitätsgefühl, einem geringen Selbstwertgefühl und einer langwierigen Selbstanalyse führen. Die Mädchen erkennen, dass ihre Freundschaften und Beziehungen auf einer Täuschung beruhen, bei der sie eine „falsche“ Identität preisgeben. Dies verstärkt ihr Gefühl der tiefen inneren Einsamkeit. Sie sehnen sich danach, ihr authentisches Selbst zu finden und sein zu können, sind sich aber dessen bewusst, dass sie, wenn sie ihr wahres Selbst offenbaren, abgelehnt und verachtet werden könnten.


Die Psychotherapie muss sich daher verstärkt auf die negativen Langzeitfolgen von Masking konzentrieren, Selbstakzeptanz fördern und Wege aufzeigen, wie man befreundeten Personen und der Kollegschaft Autismus erklären kann, damit andere autistische Eigenarten akzeptieren und schätzen können. Nur so werden soziale Akzeptanz und Integration erleichtert.


Kompensation
Eine vierte Anpassung an den Autismus besteht darin, einen Lebensstil zu schaffen, der autistische Züge auf ein Minimum reduziert. Autistische Mädchen ziehen vielleicht die Gesellschaft von Jungen vor, deren soziale Dynamik viel einfacher zu entschlüsseln ist als die von Mädchen. Jungen sind vielleicht wohlwollender gegenüber anderen, sozial unbeholfenen Gleichaltrigen, die sich aber in ihrer Gesellschaft offensichtlich wohlfühlen und entspannen.
Kompensation kann auch dadurch erreicht werden, dass man ein Interesse oder Talent für Wissenschaft, Kunst oder Computerspiele pflegt, Bücher schreibt, Kunst kreiert, Musik macht, singt, viele Sprachen lernt, sich in die Wissenschaft vertieft oder Spiele entwickelt. Exzentrisches soziales Auftreten wird akzeptiert, andere Gleichaltrige passen sich an, da sie dieses Talent erkennen und bewundern.


Eine andere Kompensationsstrategie besteht darin, sich für einen fiktiven Helden oder Superhelden zu interessieren und Freundschaften zu schließen, die auf gemeinsamen Interessen beruhen, z. B. Cosplay und Comic-Con. Durch definierte und anerkannte Rollen kann so eine alternative Persönlichkeit entstehen. Autistische Mädchen können versuchen, sich sozial zu integrieren, indem sie Psychologie studieren und eifrig Bücher über Körpersprache und Freundschaft lesen oder einen Beruf ergreifen, der nicht viel soziales Engagement erfordert, wie z. B. Guide in einem Naturpark.
Andere Kompensationsstrategien können darin bestehen, eine Teilzeitausbildung oder -beschäftigung anzunehmen, um die Auswirkungen der Erschöpfung zu verringern. Häufig integrieren sie sich in ein soziales Netzwerk von befreundeten Personen und Kontakten mit Autismus, d. h. Menschen, die Autismus bei ihnen akzeptieren und soziale Interaktionen ohne Masking ermutigen. Und das macht für sie Sinn.


Mit freundlicher Genehmigung von Prof. Tony Attwood und Dr. Michelle Garnett: https://attwoodandgarnettevents.com/category/attwood-and-garnett-blog/

 

 

 
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