Ein Tropfen, der alles verändert.

Erkenntnisse zu Autismus – Teil 3: Autismus und psychische Komorbiditäten

14. November 2024

– von Professor Tony Attwood, Übersetzung: ProZ-Probono-Netzwerk

Im dritten Teil unserer vierteiligen Serie über Erkenntnisse zu Autismus beschreibt Professor Tony Attwood einige Erkrankungen, die häufig zusammen mit Autismus auftreten. Im ersten Teil unserer Serie hat Tony Attwood Autismus im historischen Kontext erörtert. Im zweiten Teil teilt er seine Beobachtungen darüber mit, wie verschiedene Personen mit Autismus umgehen und welche unterschiedlichen Ergebnisse sie mit diesen Bewältigungsmechanismen erzielen. Nächste Woche wird Tony über die Prognose bei Autismus sprechen.

Wir wissen heute, dass es einen Zusammenhang zwischen Autismus und Angst gibt. Etwa 80 % der autistischen Kinder und Erwachsenen fühlen sich die meisten Stunden des Tages und ihres gesamtes Leben über leicht ängstlich. In bestimmten Situationen erleben sie oft intensive Ängste, z. B., wenn sich die Routine oder die Erwartungen ändern, wenn sie unsicher sind, was zu tun ist oder was passieren wird, wenn sie Angst vor Unzulänglichkeit und Fehlern haben und wenn sie bestimmte sensorische Erfahrungen machen. Angst kann auch an überfüllten Orten auftreten, z. B. in einem Einkaufszentrum an einem Samstag. Untersuchungen haben bestätigt, dass eine Angststörung das häufigste psychische Problem bei autistischen Erwachsenen ist. Manchmal wird das Ausmaß der erlebten Ängste als tatsächlich größere Einschränkung empfunden als die diagnostischen Merkmale von Autismus.


Forschung und klinische Erfahrung zeigen, dass etwa ein Drittel der autistischen Erwachsenen immer wieder Gefühle von Traurigkeit und Pessimismus erleben, die sich zu einer klinischen Depression entwickeln können. Es gibt viele Gründe, warum eine autistische Person traurig und depressiv werden kann. Dazu gehören Gefühle der sozialen Isolation, Einsamkeit und das Gefühl, von Familienmitgliedern und der Kollegschaft nicht geschätzt und verstanden zu werden. Ein weiterer Grund für Depressionen ist die Erschöpfung, die durch den Kontakt mit anderen Menschen entsteht und den Versuch, Emotionen – insbesondere Ängste – zu bewältigen und oft zu unterdrücken. Dazu kommt der Umgang mit sensorischer Hypersensibilität. Die Person ist ständig in Alarmbereitschaft und versucht, die ständige Angst zu ertragen, während sie aber gleichzeitig emotional gar nicht so belastbar ist und wenig Selbstvertrauen hat. Die geistige Anstrengung, alltägliche Interaktionen und Erfahrungen intellektuell zu analysieren, ist kräftezehrend, und die Erschöpfung der geistigen Energie führt zu Gedanken und Gefühlen der Verzweiflung.


Neuere Forschungen haben den Zusammenhang zwischen Autismus und Alexithymie untersucht, d. h. der Fähigkeit, die eigenen Gedanken und Gefühle zu erkennen oder zu beschreiben. Eine autistische Person hat meist echte Schwierigkeiten, ihre Gedanken und Gefühle mit Worten zu formulieren. Wenn sie gefragt wird, warum sie etwas getan hat oder wenn sie ihre Gefühle in Bezug auf ein Ereignis beschreiben soll, kann es sein, dass sie antwortet: „Ich weiß es nicht“. Das ist keine dumme oder ausweichende Antwort, sondern Ausdruck einer bekannten Schwierigkeit mit Selbstreflexion und dem verbalen Ausdrücken innerer Gedanken und Gefühle. Psychotherapie für psychische Probleme muss daher auch den Fähigkeiten und Erfahrungen in Zusammenhang mit Autismus angepasst werden. Zum Beispiel müssen Alexithymie, lebenslanges Mobbing, Hänseleien und sensorische Hypersensibilität berücksichtigt werden. Inzwischen gibt es psychologische Therapiehandbücher, die speziell für Erwachsene mit Autismus entwickelt wurden, und ich konnte zusammen mit meiner Kollegin Dr. Michelle Garnett zu vielen dieser Handbücher und Therapieprogramme beitragen. Es gibt Einzel- und Gruppenprogramme zur Behandlung von Ängsten und Depressionen, zur Stärkung der Widerstandsfähigkeit gegen Mobbing und Hänseleien und zum Erwerb von Fähigkeiten in den Bereichen Liebe und Romantik bis hin zur Beschäftigung entwickelt und bewertet.


Es gibt immer mehr Hinweise darauf, dass Autismus mit spezifischen Lernstörungen wie Legasthenie und Hyperlexie, Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, geistiger Behinderung und spezifischen Sprachstörungen einhergeht. Der diagnostische Weg endet also nicht mit der Autismusdiagnose. Umgekehrt kann der Weg zur Autismusdiagnose mit der genauen Diagnose einer anderen psychischen Störung oder Persönlichkeitsstörung beginnen, und eine detaillierte Entwicklungsgeschichte weist dann auf das Vorhandensein von Autismus hin. Forschungen und meine eigene klinische Erfahrung deuten darauf hin, dass etwa eine von vier autistischen Personen ebenfalls mit einer Essstörung, Drogensucht, Geschlechtsdysphorie oder Borderline-Persönlichkeitsstörung diagnostiziert wurde. Es besteht auch ein Zusammenhang zwischen Autismus und Tourette-Syndrom, Schlafstörungen und bipolaren Störungen. Fachkräfte aus allen Bereichen der Psychologie und Psychiatrie müssen autistische Merkmale in der Entwicklungsgeschichte und im Fähigkeitsprofil der Patientenschaft erkennen. Wenn die Diagnose bestätigt ist, müssen sie ihre Psychotherapie anpassen, um der autistischen Person gerecht zu werden, die eine andere Art der Wahrnehmung, des Denkens, des Lernens und der Beziehung hat als die übrige Patientenschaft.


Wir erkennen auch, dass Autismus zwar mit anderen Komorbiditäten einhergehen kann, aber auch, dass das nicht immer der Fall ist. Etwa 15 % der autistischen Erwachsenen haben keine zusätzlichen Diagnosen, und sie haben oft eine andere Prognose.

Mit freundlicher Genehmigung von Prof. Tony Attwood und Dr. Michelle Garnett: https://attwoodandgarnettevents.com/category/attwood-and-garnett-blog/

 

 

 
de_DEDeutsch