Ein Tropfen, der alles verändert.

Masking bei erwachsenen autistischen Menschen – ein Leitfaden für Fachkräfte

6. November 2024

Von Emma Hinze, Professor Tony Attwood und Dr. Michelle Garnett – Übersetzung: Sigrid Andersen

Heute achten wir in der Forschung und klinischen Praxis verstärkt auf Masking bei autistischen Personen. Masking beginnt häufig schon in der Kindheit, setzt sich im Jugendalter fort und dauert meist bis ins Erwachsenenalter an, da die Betroffenen verstärkt sozialen Druck und entwicklungsbedingte Veränderungen erleben. Für Fachleute ist es entscheidend, Masking bei autistischen Jugendlichen zu verstehen und zu erkennen, da diese Altersgruppe in dieser kritischen Phase erheblichen Herausforderungen gegenübersteht.  Dieser Leitfaden stützt sich auf aktuelle Forschung und klinische Erfahrung und bietet wichtige Überlegungen zum Erkennen von Masking bei autistischen Jugendlichen.

Autistisches Masking verstehen

Masking beschreibt Strategien, die autistische Personen anwenden, um sich an überwiegend neurotypische soziale Umgebungen anzupassen.  Mithilfe dieser Strategien werden autistische Verhaltensweisen versteckt und unterdrückt sowie neurotypisches Verhalten und oberflächliche neurotypische Interaktionen nachgeahmt, um nicht verurteilt oder falsch verstanden zu werden. Während Masking kurzfristig soziale Erfolge ermöglichen kann, verlangt es den Betroffenen kognitiv und emotional extrem viel ab. Und das kann langfristig der psychischen Gesundheit schaden und sich in Angst, Depression und Burnout manifestieren (Hull et al., 2017; Cassidy et al., 2019).

Autistische Jugendliche maskieren häufig, um negative soziale Erfahrungen zu vermeiden. Sie möchten nicht gemobbt oder als „seltsam“ oder „anders“ wahrgenommen werden. Im Gegensatz zu neurotypischen Jugendlichen, die sich normalerweise verstellen, um dazuzugehören und Freundschaften zu schließen (Bernardin et al., 2021).  Dieser Wunsch, sich selbst zu schützen, kann auf eine große sozial bedingte Gefährdung von autistischen Jugendlichen hindeuten und die Notwendigkeit von Interventionen bei Mobbing und Ablehnung durch Gleichaltrige unterstreichen. Darüber hinaus können die großen sozialen Erwartungen und der Druck, den Teenager erleben – beispielsweise in komplexen Beziehungen und beim Einhalten gesellschaftlicher Normen – Masking noch verstärken.

Wichtige Überlegungen für Fachleute

  1. Die Ambivalenz von Masking

Masking kann in bestimmten Situationen hilfreich sein, da es autistischen Jugendlichen ermöglicht, sich sozial zu integrieren und unmittelbare negative Konsequenzen zu vermeiden. Fachleute sollten jedoch erkennen, dass dieser soziale „Erfolg“ langfristig einen sehr hohen Preis hat. Forschungsergebnisse zeigen, dass Masking kognitiv und emotional extrem anstrengend ist und zu Burnout, Angststörungen und einem höheren Risiko für psychische Erkrankungen wie Depressionen führen kann (Cook et al., 2022; Hull et al., 2017). Fachleute sollten daher sorgfältig abwägen, ob Masking im sozialen Kontext tatsächlich kurzfristig hilfreich sein kann oder ob das Risiko für langfristige Beeinträchtigungen zu groß ist.  Generell muss das Wohlergehen der Jugendlichen im Mittelpunkt stehen.

  1. Geschlechtsspezifische Unterschiede beim Masking

Untersuchungen deuten darauf hin, dass autistische Mädchen häufiger maskieren als autistische Jungen (Lai et al., 2017). Es ist jedoch wichtig, zu erkennen, dass Masking bei allen Geschlechtern auftreten kann, auch bei nicht-binären und genderfluiden Personen. In der Vergangenheit konzentrierte man sich bei der Forschung auf binäre Geschlechtsunterschiede, wodurch gender-diverse Erfahrungen oft vernachlässigt wurden. Das führt dazu, dass bei nicht-binären und genderfluiden Personen sowie bei Trans-Personen Autismus möglicherweise nur schwer erkannt wird, da sie sozial „unauffällig“ wirken und ihre inneren Kämpfe mit sich selbst verbergen.

Autistische Mädchen maskieren meist sowohl in Bezug auf ihr Verhalten als auch in Bezug auf Kompensationsstrategien häufiger als Jungen.  Verhaltensbezogenes Maskieren bedeutet Nachahmen sozialer Verhaltensweisen, während kompensatorisches Masking dazu dient, zugrunde liegende soziale und kognitive Schwierigkeiten zu verbergen, wie zum Beispiel das fehlende Verständnis für subtile Andeutungen und Normen.  Auf diese Weise können Herausforderungen im sozialen Bereich verschleiert werden. Deshalb sollten Fachleute unbedingt sowohl Verhalten als auch kognitive Aspekte berücksichtigen (Wood-Downie et al., 2021).  Dazu kommt, dass autistische Mädchen häufig sozial besser integriert sind als Jungen, was das Erkennen ihrer sozialen Probleme zusätzlich erschweren kann (Wood-Downie et al., 2021).

Wird dadurch eine Diagnose erst spät gestellt, erhalten Betroffene eventuell nicht rechtzeitig Hilfe. Ihre psychische Gesundheit verschlechtert sich rasch (Wood-Downie et al., 2021). Fachleute sollten daher nicht nur oberflächliche soziale Interaktion betrachten, sondern erkennen, dass Masking bei autistischen Menschen viele verschiedene Formen haben kann. Die Erfahrungen, die autistische Menschen emotional mit sich selbst ausmachen, wie beispielsweise soziale Ängste und sensorische Hypersensibilität, können zu verstärktem Masking führen. Dadurch wird dieser innere Kampf häufig nicht sofort sichtbar. Ein genderinklusiver Ansatz ist entscheidend, damit Diagnosen nicht verzögert oder gar nicht gestellt werden, insbesondere bei den Betroffenen, bei denen Masking ihre tatsächlichen Bedürfnisse und ihren emotionalen Stress verschleiert.

Dazu kommt, dass autistische Frauen manchmal maskieren, um nicht diagnostiziert zu werden, da sie Angst vor Vorurteilen und davor, anders behandelt zu werden, haben. Dadurch wird Masking bei Frauen noch komplexer. Sie fühlen sich möglicherweise gezwungen, ihre wahre Identität zu verbergen, um einer Stigmatisierung zu entgehen (Bernardin et al., 2021). Es ist wichtig, zu betonen, dass die Forschung zwar oft Unterschiede im Masking bei Mädchen und Jungen macht, dass diese Verhaltensweisen aber nicht geschlechtsspezifisch sind. Autistische Menschen aller Geschlechtsidentitäten maskieren unterschiedlich stark. Daher sollten Fachleute bei der Beurteilung von Masking-Verhalten keine Annahmen aufgrund des Geschlechts der Betroffenen treffen.

  1. Überlegungen in Bezug auf die Entwicklung

Die Jugend ist geprägt von bedeutenden neurologischen und psychologischen Veränderungen, und die erhöhten sozialen Erwartungen in dieser Zeit können Masking verstärken.  Der Wechsel zu einer weiterführenden Schule fällt oft mit steigendem Gruppenzwang zusammen und stellt somit einen kritischen Zeitpunkt für die Abklärung dar. Mit zunehmendem Alter der Jugendlichen werden ihre Masking-Strategien möglicherweise ausgefeilter. Sie werden sich immer stärker bewusst, wie sie von anderen wahrgenommen werden. Das kann zu gezielteren Bemühungen führen, autistische Merkmale zu verschleiern. Für Fachleute wird es somit schwierig, Masking zu erkennen.

Wie gut man im Alltag „funktioniert“, hängt meist von häufigem und effizientem Masking ab, insbesondere im Hinblick auf Kompensationsstrategien. Die Beurteilung dieser spezifischen kognitiven Masking-Fähigkeiten kann Fachleuten helfen, zu verstehen, wie gut Jugendliche in der Lage sind, soziale Interaktionen zu bewältigen, aber auch auf eine erhöhte kognitive und emotionale Belastung hinweisen (Hull et al., 2020). Interessanterweise hat der IQ offenbar keinen konsistenten Einfluss auf Masking, was darauf hindeutet, dass diese Verhaltensweisen über das gesamte intellektuelle Spektrum hinweg auftreten können (Hull et al., 2020). Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass ein höherer IQ das Ausmaß des kompensatorischen Masking beeinflussen könnte, wobei Jugendliche mit besseren kognitiven Fähigkeiten trotz zugrunde liegender sozialer Herausforderungen oft besser zurechtkommen (Wood-Downie et al., 2021).

Zusätzlich zeigen sich geschlechtsspezifische Unterschiede dahingehend, wie leicht Masking fällt. Autistische Jungen beschreiben es oft als unkompliziert, während autistische Mädchen es als schwieriger und emotional belastender empfinden (Bernardin et al., 2021). Diese Unterschiede könnten den zusätzlichen sozialen Druck, sich komplexen sozialen Normen anzupassen, widerspiegeln, der auf Mädchen lastet. Diese Tatsache begründet auch, warum Mädchen in verschiedenen Situationen stärker maskieren und Techniken anwenden, die eine höhere kognitive und emotionale Belastung erfordern, wie beispielsweise Kompensation.

  1. Nicht nur oberflächliche soziale Interaktion beachten

Eine der größten Herausforderungen beim Erkennen von Masking besteht darin, dass autistische Jugendliche auf den ersten Blick sozial kompetent wirken können, was zu einer Fehleinschätzung ihrer tatsächlichen Schwierigkeiten führt. Masking bedeutet häufig nicht nur das Verbergen autistischer Merkmale, sondern auch das aktive Einsetzen von Verhaltensweisen, die als sozial normativ gelten, wie beispielsweise das Halten von Blickkontakt, Lächeln oder das Verwenden von einstudierten Gesprächsabläufen. Diese Kompetenzen spiegeln jedoch möglicherweise nicht das tatsächliche Wohlbefinden oder die Fähigkeit der Person in sozialen Situationen wider (Cook et al., 2022).

Um diesem Aspekt gerecht zu werden, sollten Fachkräfte Selbstauskünfte mit Beobachtungsmethoden kombinieren. Tools wie das Camouflaging Autistic Traits Questionnaire (CAT-Q; Hull et al., 2019) bieten Einblicke dahingehend, wie es den Betroffenen beim Masking wirklich geht. Zudem erlaubt das Sammeln qualitativ hochwertiger Daten durch Befragungen oder reflektierende Übungen Jugendlichen, Situationen zu beschreiben, in denen sie das Bedürfnis verspüren, zu maskieren, und so die Diskrepanzen zwischen äußerer Kompetenz und inneren Kämpfen offenzulegen.

Zudem sollte verstärkt berücksichtigt werden, dass Masking nicht immer bewusst stattfindet. Einige Personen wissen womöglich gar nicht, dass sie maskieren, was die Bedeutung von Berichten von Eltern oder Lehrkräften unterstreicht, um ein vollständiges Bild zu erhalten (Hull et al., 2020). Zudem kann Masking autistischen Jugendlichen zwar helfen, Freundschaften aufzubauen, hat aber einen hohen Preis. Die Betroffenen fühlen sich emotional ausgebrannt und haben das Gefühl, nie sie selbst sein zu können (Bernardin et al., 2021).

  1. Auswirkung auf psychische Gesundheit und Wohlbefinden

Masking ist stark mit negativen Auswirkungen auf die psychische Gesundheit verknüpft. Es kommt zu erhöhter Ängstlichkeit, Depressionen und Suizidalität (Cassidy et al., 2019). Fachkräfte sollten daher nicht nur bewerten, ob maskiert wird, sondern auch die emotionale Belastung erkennen, die es für Jugendliche mit sich bringt.  Indem direkt nachgefragt wird, ob sich Betroffene ausgebrannt fühlen oder soziale Ängste haben, können die verborgenen Auswirkungen von Masking aufgedeckt werden.

Autistische Mädchen berichten oft davon, sich nach dem Maskieren emotional erschöpft und  nicht mehr authentisch zu fühlen, während autistische Jungen häufiger angeben, neutral oder sogar positiv eingestellt zu sein. Diese geschlechtsspezifischen Unterschiede verdeutlichen, wie wichtig es ist, die negativen sozialen Auswirkungen von Masking zu berücksichtigen, insbesondere bei Mädchen, die aufgrund des Verbergens ihrer autistischen Merkmale mit stärkeren inneren Konflikten konfrontiert sein können (Bernardin et al., 2021). Die kognitive Belastung, die Masking – insbesondere bei gezielter Kompensation – mit sich bringt, kann die psychische Gesundheit erheblich beeinträchtigen und zu langfristiger emotionaler Erschöpfung und Burnout führen (Hull et al., 2020).

  1. Bedeutung für Familie und Schule

Autistische Jugendliche erleben in verschiedenen sozialen Situationen unterschiedlich viel Druck, der sie zum Masking veranlasst. Beispielsweise können die Erwartungen, die in der Schule, zu Hause oder unter Gleichaltrigen an sie gestellt werden, völlig unterschiedlich sein. Fachkräfte sollten bei der Bewertung von Masking einen kontextuellen Ansatz wählen und untersuchen, wie sich das Verhalten der Jugendlichen je nach Umfeld verändert. Das Einbinden von Eltern, Lehrpersonen und Gleichaltrigen bei der Abklärung kann wertvolle Einblicke in das soziale Verhalten der Jugendlichen in unterschiedlichen Situationen liefern.  Lehrkräfte haben dabei oft eine einzigartige Perspektive darauf, wie Jugendliche Beziehungen zu Gleichaltrigen und soziale Dynamiken in strukturierten Umgebungen bewältigen.

Ganzheitlicher Ansatz zum Erkennen von Masking

Das Erkennen von Masking bei autistischen Jugendlichen erfordert einen umfassenden und mehrdimensionalen Ansatz.  Fachkräfte sollten das komplexe Zusammenspiel zwischen dem inneren Erleben der Jugendlichen, dem sozialen Umfeld und den möglichen langfristigen Folgen aufgrund von Masking berücksichtigen. Mithilfe einer Kombination von Selbstauskunft-Tools, Beobachtungstechniken und ausführlichen Befragungen können Fachkräfte die soziale Kompetenz und das Wohlbefinden der Jugendlichen besser verstehen. Mit weiteren Erkenntnissen in diesem Bereich wird die Forschung voraussichtlich spezifischere Diagnoseinstrumente für diese Zielgruppe entwickeln. Heute jedoch ist es entscheidend, die verborgenen Herausforderungen zu erkennen und anzugehen, die Masking für autistische Jugendliche mit sich bringen kann.

Da sich Masking bereits in der frühen Jugend entwickelt und in dieser Phase relativ stabil bleibt (Hull et al., 2020), ist eine frühzeitige Identifikation von Masking von großer Bedeutung. Eine rechtzeitige Abklärung kann dazu beitragen, die psychischen Folgen abzuschwächen, die mit langanhaltendem Masking so häufig einhergehen.

Quellen

Mit freundlicher Genehmigung von Prof. Tony Attwood und Dr. Michelle Garnett: https://attwoodandgarnettevents.com/category/attwood-and-garnett-blog/

 

Bernardin, C.J., Mason, E., Lewis, T. et al. “You Must Become a Chameleon to Survive”: Adolescent Experiences of Camouflaging. J Autism Dev Disord 51, 4422–4435 (2021). https://doi.org/10.1007/s10803-021-04912-1

Cassidy SA, Bradley L, Bowen E, Wigham S, Rodgers J. Measurement properties of tools used to assess suicidality in autistic and general population adults: A systematic review. Clin Psychol Rev. 2018 Jun;62:56-70. doi: 10,1016/j.cpr.2018.05.002. Epub 2018 May 5. PMID: 29778930.

Hull L, Petrides KV, Mandy W. Cognitive Predictors of Self-Reported Camouflaging in Autistic Adolescents. Autism Res. 2021 Mar;14(3):523-532. doi: 10,1002/aur.2407. Epub 2020 Oct 13. PMID: 33047869.

Hull, L., Petrides, K.V., Allison, C. et al. “Putting on My Best Normal”: Social Camouflaging in Adults with Autism Spectrum Conditions. J Autism Dev Disord 47, 2519–2534 (2017). https://doi.org/10.1007/s10803-017-3166-5

Hull, L., Mandy, W., Lai, MC. et al. Development and Validation of the Camouflaging Autistic Traits Questionnaire (CAT-Q). J Autism Dev Disord 49, 819–833 (2019). https://doi.org/10.1007/s10803-018-3792-6

Lai, M.-C., Lombardo, M. V., Auyeung, B., Chakrabarti, B., & Baron-Cohen, S. (2015). Sex/Gender Differences and Autism: Setting the Scene for Future Research. Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry, 54(1), 11–24. https://doi.org/10.1016/j.jaac.2014.10.003

Wood-Downie, H., Wong, B., Kovshoff, H. et al. Sex/Gender Differences in Camouflaging in Children and Adolescents with Autism. J Autism Dev Disord 51, 1353–1364 (2021). https://doi.org/10.1007/s10803-020-04615-z

 

 

 
de_DEDeutsch