– von Prof. Tony Attwood und Dr. Michelle Garnett – Übersetzung: Sigrid Andersen
Weihnachten kann wirklich magisch, voller Freude und Familienzeit sein. Für Familien mit autistischen Kindern bringt diese Zeit aber auch Herausforderungen mit sich. Änderungen der Routineabläufe, neue soziale Situationen, sensorische Überreizung und die traditionellen Erwartungen der Familie können dazu führen, dass diese festliche Zeit sowohl Kinder als auch ihre Betreuungspersonen überfordert. Mit diesem Leitfaden erhalten Sie praktische Strategien, neue Forschungserkenntnisse und Anleitungen zum Umgang mit Erwartungen von der Familie, die Ihnen dabei helfen können, die Festtage für alle so angenehm und stressfrei wie möglich zu gestalten.
1 Erwartungen abgleichen und Grenzen setzen
Ein erster Schritt hin zu einem positiveren Weihnachtsfest ist das Abgleichen von Erwartungen. Halten Sie nicht an der Idee fest, dass alle immer an allen Weihnachtstraditionen teilnehmen müssen. Passen Sie stattdessen Traditionen an oder machen Sie Ihre eigenen, die zu den besonderen Bedürfnissen Ihres Kindes passen. Wenn Ihre Familie beispielsweise am Weihnachtsabend üblicherweise ein großes Festessen plant, könnten Sie stattdessen zu einem kleineren Mittagessen zu einem Zeitpunkt einladen, der für Ihr Kind angenehmer ist.
Besonders wichtig ist es auch, in Bezug auf Verwandte klare Grenzen zu kommunizieren. Finden Sie heraus, was für Ihr Kind eine Überforderung darstellt. Dabei kann es sich beispielsweise um laute Familienfeiern oder bestimmte Lebensmittel handeln. Setzen Sie klare Grenzen, was Ihre Familie tun und was sie nicht tun kann. Wenn möglich, können natürlich auch Kompromisse gefunden werden. Auf diese Weise können Sie mit Erwartungen besser umgehen und ein positives Umfeld für Ihr Kind schaffen.
2 Bereiten Sie Ihr Kind auf Änderungen der Routineabläufe vor
Zu Weihnachten verlaufen die Tage häufig anders als sonst. Für autistische Kinder kann das schwierig sein. Sie helfen Ihrem Kind durch diese Veränderungen, indem Sie es rechtzeitig darauf vorbereiten. Erstellen Sie einen visuellen Kalender oder Plan mit allen Details für die bevorstehenden Aktivitäten: Besuche bei Verwandten, Mahlzeiten, geplantes Schmücken der Wohnung usw. Auf diese Weise hat Ihr Kind das Gefühl der Kontrolle und Vorhersehbarkeit. Es kann sich gedanklich auf alle Aktivitäten vorbereiten.
Einige Routineabläufe sollten beibehalten werden, beispielsweise die Schlafenszeit oder die Mahlzeiten, die in dieser hektischen Zeit Stabilität geben. Falls Änderungen nicht vermieden werden können, sollten Sie dies rechtzeitig kommunizieren und beruhigende Aktivitäten in den Tagesablauf Ihres Kindes einbauen.
3 Umgang mit Sinneseindrücken Identifizieren Sie ruhige Orte
Zusammenkünfte an Weihnachten können häufig sensorisch sehr herausfordernd sein: grelles Licht, viele Dekoartikel, viele laute Menschen und viele neue Gerüche. Indem Sie bereits vorab einen sensorisch freundlichen Ort identifizieren, können Sie für jeden Familienanlass hilfreiche Strategien entwickeln. Zeigen Sie Ihrem Kind, wo es hingehen kann, wenn es überfordert ist. Dieser Ort sollte mit bekannten, beruhigenden Objekten wie Kopfhörern, Stimming-Spielzeug oder der Lieblingsdecke ausgestattet sein, sodass sie sich entspannen und sensorisch erholen können.
Werden Familie oder befreundete Personen besucht, fragen Sie im Vorfeld, ob ein solcher ruhiger Ort zur Verfügung steht. Bringen Sie vertraute Objekte, sozusagen ein tragbares „Entspannungsset“ mit, das Ihrem Kind bei den sensorischen Herausforderungen der Weihnachtsfeierlichkeiten hilft.
4 Familienmitglieder informieren
Viele Herausforderungen an Weihnachten entstehen durch Missverständnisse, da einige Familienmitglieder einfach nicht verstehen, was Autismus bedeutet. Nehmen Sie sich Zeit, um mit den Verwandten über Autismus und die besonderen Bedürfnisse Ihres Kindes zu sprechen. Sie können beispielsweise erklären, warum Ihr Kind die traditionellen Weihnachtsfeiern nicht genießen kann oder warum es sich bei Familienfeiern manchmal einfach zurückziehen muss. Indem Sie dieses Wissen teilen, können Verständnis und eine positive Atmosphäre entstehen. Sowohl Sie als auch Ihr Kind erleben weniger Stress.
Sie könnten vielleicht auch einen kurzen Leitfaden erarbeiten oder bereits vorab mit Familienmitgliedern über alles sprechen. Dadurch wissen alle, was sie erwarten können und fühlen sich somit auch wohler. Sowohl Ihr autistisches Kind als auch Ihre Familienmitglieder werden die Weihnachtsfeiertage entspannter erleben.
5 Traditionen flexibel gestalten
Viele Weihnachtstraditionen können überfordern. Daher kann es von Vorteil sein, neue, autismusfreundlichere Traditionen zu erfinden. Sie könnten statt einem großen Familienessen beispielsweise im Freien etwas Kleineres unternehmen, wie draußen gemeinsam eine Lichterkette aufhängen. Sie können eventuell auch über mehrere Tage gemeinsam dekorieren, statt alles an einem Tag zu erledigen. Kleinere und überschaubare Aktivitäten können Druck reduzieren und so diese festliche Zeit für alle angenehmer machen.
Auch, indem das Fest selbst auf mehrere Tage aufgeteilt wird – indem beispielsweise an mehreren Tagen jeweils ein oder zwei Geschenke geöffnet werden, anstatt alle an einem Tag – werden Angst und Überforderung Ihres Kindes reduziert. Es empfiehlt sich, die Geschenke so zu verpacken, dass sie einfach zu öffnen sind. Sie können beispielsweise dafür auch Küchenrolle verwenden, wenn dies den sensorischen und feinmotorischen Bedürfnissen Ihres Kindes besser entspricht.
6 Nutzen Sie sensorisch angenehme Momente
Einige Organisationen und Einkaufszentren bieten bereits sensorisch angepasste Erlebnisse wie die „Stille Stunde“ an. Diese Angebote finden häufig in kontrollierter und ruhiger Umgebung statt. Das Licht wird gedimmt, es ist weniger Lärm, und das Erlebnis ist für autistische Kinder somit nicht so überfordernd. Informieren Sie sich bei Ihren Autismusorganisationen oder anderen Betroffenen vor Ort, um sensorisch angepasste Weihnachtserlebnisse in Ihrer Region zu finden.
7 Planen Sie Erholung und Selbstfürsorge ein
Auch für Eltern und Betreuungspersonen kann die Weihnachtszeit anstrengend sein. Daher ist es wichtig, sich zu erholen und auf sich selbst zu achten. Nehmen Sie sich die Zeit, die Sie brauchen, um Ihr Kind anschließend optimal unterstützen zu können, indem Sie beispielsweise befreundete oder verwandte Personen darum bitten, einige Stunden auf Ihr Kind aufzupassen oder holen Sie sich professionelle Hilfe.
Sogar kleine Pausen wie ein Spaziergang im Freien oder einige Minuten alleine bei einer Tasse Tee können Ihnen helfen, sich entspannter zu fühlen und die Festtage besser zu überstehen. Denken Sie daran, dass eine gut ausgeruhte Betreuungsperson wirklich wichtig ist, um ein positives Umfeld voller Unterstützung für ein autistisches Kind zu schaffen.
8 Praktische Überlegungen zu den Geschenken
Für autistische Kinder können Geschenke Stress bedeuten, besonders dann, wenn sie mit Überraschungen oder sensorischen Herausforderungen verbunden sind. Empfehlenswert ist hier eine Liste mit Lieblingsspielzeug, Lieblingsaktivitäten und sensorisch angenehmen Geschenken, die Sie vorab an Familienmitglieder verteilen können. Auch Erlebnisgutscheine für die Lieblingsaktivität, fürs Kino oder für ein besonders interessantes und sensorisch freundliches Erlebnis eignen sich hervorragend als Geschenk, das keine sensorische Belastung darstellt. Falls Ihr Kind Schwierigkeiten mit der Feinmotorik hat, können einfache Geschenkverpackungen und Beutel dazu beitragen, das Erlebnis inklusiver zu gestalten.
9 Visuelle Unterstützung oder Social Stories
Social Stories sind ein effizientes Werkzeug, um autistische Kinder auf bevorstehende Ereignisse vorzubereiten. Sie können Social Stories erstellen, die aufzeigen, was Ihr Kind während der Weihnachtsfeiertage erwartet. Zeichnen Sie das Dekorieren des Baumes oder einen Weihnachtsbesuch. Diese visuellen und narrativen Hilfsmittel machen alles viel konkreter und helfen so, Angst zu reduzieren und ein Gefühl der Sicherheit und Vorhersehbarkeit zu erzeugen.
10 Überlegungen bezüglich Essen
Für einige autistische Kinder sind die Weihnachtsgerichte ungewohnt und überfordernd. Falls Ihr Kind nur gewisse Lebensmittel oder Gerichte isst, sollten Sie dies frühzeitig mit Ihrer Familie und Gastgebenden besprechen. Nehmen Sie einfach bekannte Nahrungsmittel mit, um die Mahlzeiten entspannter zu gestalten. Bitten Sie Familienmitglieder darum, nicht einfach ungefragt Nahrungsmittel anzubieten, um so Essensgewohnheiten beizubehalten und bei Unverträglichkeiten nicht auch noch Verdauungsprobleme oder Verhaltensänderungen zu riskieren.
11 Übergänge planen
Übergänge wie das Eintreffen bei oder das Verlassen von Festen können für autistische Kinder besonders schwierig sein. Planen für diese Momente besonders viel Zeit, damit Ihr Kind mit diesen Übergängen gut zurechtkommt. Informieren Sie Ihr Kind rechtzeitig darüber, dass bald eine Änderung ansteht: „In 10 Minuten fahren wir nach Hause“. Zusätzlich können Sie visuelle Timer wie Sanduhren oder für ältere Kinder Stoppuhren als Hilfsmittel einsetzen. Auf diese Weise kann sich Ihr Kind gedanklich auf die Änderung vorbereiten und wird weniger Widerstand und Angst spüren.
12 Beziehen Sie Geschwister in die Vorbereitungen mit ein
Auch die Geschwister von autistischen Kindern brauchen an den Festtagen Unterstützung. Beziehen Sie sie in die Vorbereitungen mit ein und erklären Sie, warum Änderungen oder besondere Maßnahmen in Bezug auf ihr autistisches Geschwisterkind notwendig sind. Ermutigen Sie sie, dabei zu helfen, ein Umfeld zu schaffen, das dem autistischen Kind hilft. Erklären Sie ihnen, welche Routineabläufe ihr Geschwisterkind braucht und welche Bedürfnisse es hat. Auf diese Weise entwickeln Sie Empathie und Verständnis, fühlen sich gebraucht und einbezogen bei diesen Vorbereitungen.
13 Notfallplan bei Überlastung
Trotz aller Bemühungen kann es zu Momenten kommen, in denen Ihr Kind überfordert ist. Erstellen Sie für solche Situationen einen Notfallplan. Sie können beispielsweise mit Ihrem Kind ein „Geheimwort“ oder „Geheimsignal“ ausmachen, wenn es die Situation nicht mehr aushält und weg möchte. Zudem können Sie Dinge einpacken, die Ihrem Kind dabei helfen, ruhig zu bleiben: Lieblingsspielzeug, Snacks, Noise-Cancelling-Kopfhörer oder die Lieblingsdecke. Indem Sie sich auf diese Situationen vorbereiten, kann Stress rasch wieder abgebaut werden und sowohl Sie als auch Ihr Kind fühlen sich sicherer.
14 Arbeiten Sie mit Ihrem Kind zusammen
Beziehen Sie Ihr Kind bei der Planung der Festtage mit ein. Das Kind bekommt auf diese Weise mehr Selbstvertrauen und das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben. Fragen Sie es, welche Traditionen es am angenehmsten findet und lassen Sie es mitentscheiden bei der Planung der Aktivitäten. Ihr Feedback hilft Ihnen dabei, sicherzustellen, dass sie sich mit den gewählten Aktivitäten wohlfühlen. Die Festtage werden so zu einem positiven Erlebnis für alle.
15 Erwartungen an soziale Interaktionen
Für autistische Kinder sind soziale Interaktionen an Festtagen oft eine große Herausforderung. Besprechen Sie eventuell Strategien dafür, wie sie auf Begrüßungen reagieren können. Beispielsweise können sie kleine Texte üben, die sie bei der Begrüßung zu Verwandten sagen. Erlauben Sie Ihrem Kind, die Menschen auf ihre Weise zu begrüßen, ohne Angst vor körperlichem Kontakt wie Umarmungen haben zu müssen. Dies kann Ihrem Kind dabei helfen, sich zu entspannen und Stress bei sozialen Interaktionen zu reduzieren.
16 Üben Sie Aktivitäten vorab
Sie können bestimmte Festtagsaktivitäten vorab in Rollenspielen üben, um Ihrem Kind dabei zu helfen, sich sicherer zu fühlen. Vielleicht spielen Sie „Mini-Weihnachtsabend“, indem Sie ganz kleine Geschenke austauschen oder „Dekorieren“ spielen. Das Üben dieser Aktivitäten in einer vertrauten Umgebung kann Ihrem Kind dabei helfen, zu verstehen, was genau auf das Kind zukommt und ihm somit die Angst vor dem tatsächlichen Anlass nehmen.
17 Erstellen Sie ein „Überlebenskit“ für Weihnachten
Erstellen Sie für Situationen, in denen Ihr Kind während der Feier eine Pause braucht, ein detailliertes „Überlebenskit“: Stimming-Spielzeug, vertraute Snacks, Kopfhörer und kleine Lieblingsaktivitäten. Indem dieses Kit immer mit dabei ist, stehen Ihrer Familie und Ihrem Kind stets Werkzeuge zur Verfügung, die dabei helfen, mit unerwartetem Stress umzugehen. Packen Sie alle Dinge in diesem Kit, die Ihr Kind wirksam beruhigen. Damit werden überfordernde Situationen viel einfacher.
18 Lassen Sie Ihr Kind auch bei der Weihnachtsdeko mitreden
Lassen Sie Ihr Kind die Weihnachtsdeko mit aussuchen, planen und entscheiden, wann und wie die Weihnachtsdeko aufgehängt wird. Dekorationen können die Umgebung stark verändern, was einige autistische Kinder überfordert. Sie können selbst Dekoartikel auswählen, die für sie visuell und allgemein sensorisch angenehm sind: angenehme Lichter, Dekoartikel, die nicht laut rascheln oder Dekor mit einer für sie angenehmen Textur. Vielleicht ist es von Vorteil, wenn nicht das gesamte Haus dekoriert wird und die Dekoartikel nur in einem bestimmten Bereich aufgestellt werden, um Veränderungen der Umgebung zu minimieren. Dieser Ansatz macht nicht nur die Umgebung angenehmer und überschaubarer für sie, sondern gibt ihnen auch das Gefühl, selbst einen Beitrag geleistet zu haben. Die Angst nimmt ab und sie können die Festtage besser genießen.
19 Feiern Sie auf Ihre Art
Vergessen Sie die Erwartungen, dass man die Festtage auf eine ganz bestimmte Art und Weise feiern muss und nur das richtig ist. Erfinden Sie stattdessen Festlichkeiten, die für Sie als Familie gut funktionieren. Jede Familie hat ihren eigenen Rhythmus und ihr eigenes Tempo. Indem die Feierlichkeiten an die Bedürfnisse Ihres Kindes angepasst werden, erhalten die Festtage eine viel positivere Bedeutung und können mit Freude erlebt werden. Ganz egal, ob Sie nur in kleinem Kreise zu Hause feiern, bestimmte Aktivitäten ganz überspringen oder völlig neue Traditionen erfinden – SIE müssen sich zu Weihnachten gut fühlen und die Festtage genießen können.
20 Kreieren Sie eigene Strategien
Denken Sie an Ihre Erlebnisse während der letzten Weihnachtsfeiertage zurück und halten Sie fest, was gut funktioniert hat und was nicht. Nutzen Sie diese Erkenntnisse dazu, um individuelle Strategien zu kreieren, die auf die Bedürfnisse Ihres Kindes abgestimmt sind. Jedes Kind ist einzigartig. Was für Sie und Ihre Familie funktioniert, ist in einem allgemeinen Leitfaden vielleicht gar nicht zu finden. Nehmen Sie bei der Planung der Festtage daher die Dinge, die Ihrem Kind Freude machen und es beruhigen, als Ausgangspunkt, und seien Sie flexibel. Wenn etwas nicht funktioniert, kann es geändert werden.
Zusammenfassung
Die Weihnachtszeit kann viel Freude bereiten. Für Familien mit autistischen Kindern ist Sie aber auch häufig mit Herausforderungen verbunden. Indem Sie sich gut darauf vorbereiten, klare Grenzen setzen, andere Menschen über die Bedürfnisse Ihres Kindes informieren und neue Traditionen erfinden, können Sie eine Umgebung schaffen, in der sich alle Familienmitglieder wahrgenommen und wohl fühlen. Denken Sie daran, dass es völlig in Ordnung ist, Aktivitäten abzuändern oder auszulassen, die für Sie und Ihre Familie nicht funktionieren. Das Wichtigste ist, Festtage zu gestalten, die Sicherheit, Verständnis und Freude für Ihr Kind und Ihre ganze Familie bedeuten.
Quelle:
Mit freundlicher Genehmigung von Prof. Tony Attwood und Dr. Michelle Garnett: https://attwoodandgarnettevents.com/category/attwood-and-garnett-blog/