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PDA bei autistischen Erwachsenen

15. Februar 2025

Von Professor Tony Attwood und Dr. Michelle Garnett, Übersetzung – Saskia Paasch für Fachverband PDA Deutschland


Der Begriff PDA (pathological demand avoidance – auf Deutsch: pathologische Anforderungsvermeidung) wurde von Prof. Elizabeth Newson in den 1980er-Jahren geprägt. Es handelt sich um ein Verhaltensprofil, welches mit der Vermeidung der Erfüllung von Anforderungen assoziiert wird und mit extremer Nervosität und starken Ängsten verbunden ist, wenn Anforderungen überhandnehmen. PDA wurde erstmals bei autistischen Kindern festgestellt. Weitere Untersuchungen ergaben, dass damit Merkmale wie ein hohes Maß an Angst, Stimmungsschwankungen und Impulsivität sowie oberflächliche Kontaktfreudigkeit bei gleichzeitigem Mangel an sozialer Identität verbunden sind, aber auch – und zwar in einem höheren Maß als es normalerweise bei Autismus üblich ist – zwischenmenschliche Fähigkeiten und die Fähigkeit zu sozialer Manipulation (Newson et al., 2003; O’Nions et al., 2014).


Begrifflichkeiten
Derzeit gibt es einige Debatten zur Bezeichnung von PDA. Es geht dabei vor allem um das Wort „pathologisch“, das durch alternative Begriffe wie EDA (extreme demand avoidance – auf Deutsch: extreme Anforderungsvermeidung) (Gilberg, 2014) oder DAP (demand avoidance phenomena – auf Deutsch: Anforderungsvermeidungsphänomen) (Woods, 2019) ersetzt wird. Außerdem wurde der Term PDA von autistischen Menschen und PDA-Selbsthilfegruppen in „pervasive drive for autonomy“ (auf Deutsch in etwa: ständiges oder tiefgreifendes Streben nach Autonomie) abgeändert. Auch gibt es akademische und klinische Debatten über die Klassifizierung von PDA. So wird zum Beispiel diskutiert, ob PDA als separate Untergruppe innerhalb des Autismus-Spektrums betrachtet werden soll oder ob es ein erlernter Bewältigungsmechanismus ist, um mit der Kombination aus starker Angst, ADHS und Impulsivität, Prokrastination und beeinträchtigter Exekutivfunktion sowie den sozialen und sensorischen Merkmalen von Autismus zurechtzukommen. Der Einfachheit halber werden wir in diesem Blog den Begriff PDA verwenden.


Screening-Werkzeuge/Diagnosewerkzeuge für Erwachsene
Egan, Linenberg und O’Nions (2019) haben einen Fragebogen namens „Extreme Demand Avoidance Questionnaire“ (Adult QA oder EDA-QA) entwickelt und evaluiert. Der Selbsteinschätzungsbogen besteht aus 25 Punkten, zu denen unter anderem die folgenden zehn gehören:
• Ich kann gut mit anderen Menschen umgehen und sie dazu bringen, das zu tun, was ich will
• Ich versuche die von anderen aufgestellten Regeln zu hinterfragen und zu verändern
• Ich habe sehr starke Stimmungsschwankungen
• Ich habe das Bedürfnis, immer und überall die Verantwortung zu übernehmen
• Ich beschuldige eine bestimmte Person oder bestimmte Personen oder suche mir diese Person/Personen als Opfer aus
• Ich habe Schwierigkeiten damit, Anforderungen oder Bitten von anderen nachzukommen, es sei denn, sie werden sehr bedacht formuliert
• Gewöhnliche Anforderungen oder Bitten vermeide ich zwanghaft und widerstehe ihnen
• Ich stelle sicher, dass jede soziale Interaktion von mir ausgeht bzw. nach meinen Regeln abläuft
• Ich weiß, was ich tun oder sagen muss, um bestimmte Menschen zu verärgern
• Ich bin mir der Unterschiede zwischen mir und Autoritätspersonen nicht bewusst oder sie sind mir egal
Das Instrument erwies sich sowohl als zuverlässig als auch valide, und es wurde festgestellt, dass PDA-Merkmale teilweise mit Merkmalen der Autismus-Spektrum-Störung (ASS) in Beziehung stehen. Egan, Linenberg und O’Nions empfehlen auch anderen Forschenden die Nutzung des Fragebogens, um weitere Forschungen zu PDA bei erwachsenen Personen voranzutreiben.


Merkmale von PDA bei Erwachsenen
White et al. (2022) untersuchten in zwei Online-Umfragen bei erwachsenen Personen aus der Allgemeinbevölkerung die Bedeutung von autistischen Merkmalen und Ängsten als Prädiktoren für die Vermeidung von Anforderungen. Sie fanden heraus, dass autistische Merkmale und Ängste einzigartige und gleichermaßen wichtige Prädiktoren für Anforderungsvermeidung darstellen. Die Studie bestätigte, dass EDA (Anm. der Übers.: PDA) im Zusammenhang mit Autismus steht, wobei das Vermeidungsverhalten durch Ängste bestimmt wird.


Wir wissen, dass Autismus mit schwerwiegenden Angststörungen in Verbindung gebracht wird. Während und nach der Pubertät kann das Ausmaß der konstanten und episodischen Angst jedoch unerträglich sein und oft auch mit Medikamenten und kognitiver Verhaltenstherapie nicht behoben werden. Autistische Jugendliche oder Erwachsene neigen dann zum Teil zu extremen Verhaltensweisen, um mit diesen starken Angstzuständen umgehen zu können. Zu diesen Verhaltensweisen zählt unter anderem, mit allen Mitteln die Kontrolle über das tägliche Leben zu erlangen, um zu vermeiden, überhaupt erst in Angstzustände zu verfallen. Dabei können schon einfache Bitten bei autistischen Menschen dazu führen, dass sie sich unsicher und schikaniert fühlen und keine Kontrolle mehr verspüren. Es besteht also eine Phobie oder Angst vor Anforderungen (Postulophobie).


Ein Bewältigungsmechanismus besteht darin, die eigene Reaktion (Anm. d. Übers: auf die Anforderung) so lange hinauszuzögern, bis der Angstzustand auf natürliche Weise abebbt oder die Person eine bessere kognitive Kontrolle über ihre Angst hat. Um dies zu erreichen, verwenden die Jugendlichen oder Erwachsenen unter anderem Verzögerungstaktiken wie zum Beispiel Prokrastination, Verhandeln sowie das Erfinden von Ausreden für das Nichtbefolgen von Anforderungen. Eine weitere Strategie besteht darin, der Person, die die Anforderung stellt, Komplimente zu machen, um sie damit abzulenken. Diese Bewältigungsmechanismen stellen die erste Stufe der Anforderungsvermeidung dar.


Wenn sich die Strategien der ersten Stufe als ineffektiv herausstellen, setzt Stufe zwei ein: Die Person reagiert auf ihre Angst mit Flucht. Dabei wird sie gegenüber der Person, die die Anforderungen stellt, unausstehlich, unhöflich und respektlos, um diese zu vertreiben. Die dritte Stufe der Anforderungsvermeidung ist der Kampf: Es wird ein Streit oder eine Diskussion herbeigeführt, und es kommt zu einer emotionalen Explosion oder einem Meltdown. Der Meltdown hilft dabei, die angestaute Angstenergie zu entladen. Gleichzeitig dient er als emotionaler Neustart (Reset).


Während all die genannten Reaktionen auf Anforderungen das Vermeidungsverhalten durch negative Verstärkung verfestigen (Verringerung oder Beseitigung eines negativen Ergebnisses, in diesem Fall ein unerträgliches Maß an Angst), gibt es noch eine weitere Reaktion auf Angst: erstarren). Einer Anforderung nicht nachzukommen, geht nicht immer eine bewusste Entscheidung voraus, manchmal ist die Person tatsächlich körperlich nicht in der Lage dazu. Es geht dann also nicht darum, etwas „nicht zu wollen“, sondern vielmehr darum, etwas „nicht zu können“. Der Person ist bewusst, was von ihr verlangt wird, vielleicht möchte sie dem sogar selbst nachgehen. Es könnte sich auch um eine Sache handeln, die nützlich für sie ist oder die sie für einen Menschen, den sie liebt oder bewundert, tun soll. Da bei ihr aber eine autistische Reaktionsverzögerung und Erstarren einsetzen, kann sie der Anforderung nicht Folge leisten.


Es ist erkennbar, dass die extreme oder auch pathologische Anforderungsvermeidung ähnliche Merkmale haben kann wie andere fehlangepasste Bewältigungsmechanismen, die durch Ängste entstehen, wie z. B. Essstörungen, selektiver Mutismus und Selbstverletzungen.


Die Entwicklung von PDA im Erwachsenenalter
Die Anforderungsvermeidung kann sich im Laufe der Kindheit auf eine Vielzahl von Alltagssituationen ausweiten. Sie kann selbst einfache Bitten betreffen, die von anderen nicht als Anforderung wahrgenommen werden, so zum Beispiel: „Kannst du mir bitte die Zeitung geben?“ Diese Bitten, auf die nur eine einfache kurze Reaktion erforderlich wäre, empfindet die Person mit PDA als überwältigend und sie lösen bei ihr Angst aus. Das Nichterfüllen dieser Bitten und die (Anm. d. Übers.: im vorherigen Kapitel genannten) Anforderungsvermeidungsstrategien können innerhalb der Familien zu erheblichen Belastungen und Konflikten führen. Inzwischen werden die genetischen Aspekte von PDA zunehmend anerkannt. Dabei werden Merkmale innerhalb und zwischen den Generationen identifiziert, die zu häuslichen Konflikten beitragen.


Elizabeth Newson und ihr Team konnten bei 18 Erwachsenen mit PDA Folgeuntersuchungen durchführen. Alle behielten die Anforderungsvermeidung im Erwachsenenalter bei, acht davon im selben Maß wie zu Kinderzeiten, bei drei Personen hatte sich das Vermeidungsverhalten verstärkt und bei sieben war es im Vergleich zur Kindheit weniger stark ausgeprägt. Dabei zeigt sich zwar, dass sich PDA in jede Richtung entwickeln kann, aber eben auch, dass die Merkmale von PDA lebenslang bestehen bleiben können (Newson et al., 2003). Wichtig zu beachten ist jedoch, dass die 18 Teilnehmenden der Studie noch nicht von dem inzwischen existierenden Verständnis für PDA sowie der heutigen Unterstützung bei daraus resultierenden Problemen profitieren konnten. Unsere klinische Erfahrung zeigt, dass sich PDA-Merkmale im Verlauf eines Lebens verringern können. Dabei können sich insbesondere die Zeit zwischen Anforderung und Meltdown verlängern sowie die kognitive Regulation der Angst verbessern. Auch das Stresslevel kann geringer werden.


Mit der Zeit kann es dazu kommen, dass die Person mit PDA die Auswirkungen der Anforderungsvermeidung auf zwischenmenschliche Beziehungen und den Beschäftigungsstatus zunehmend besser verstehen und einschätzen kann. Auch kann es passieren, dass sie eine Reihe verschiedener Strategien zur Bewältigung von großer Angst übernimmt und neue Reaktionsmuster austestet. Ebenso besteht die Möglichkeit, dass eine Verbesserung der Selbstregulation, der Kommunikation und der Fähigkeit, für sich selbst einzustehen einsetzt.


Die Entwicklung hin zu einem Lebensstil mit minimalen Anforderungen ist ebenfalls denkbar. Bedenklich jedoch kann es werden, wenn Alkohol und illegale oder auch missbräuchlich konsumierte legale Drogen zum Abbau extremer Ängste eingesetzt werden. Auch sind uns Menschen mit PDA bekannt, die eine Medikamentenabhängigkeit entwickelt haben, um ihre Ängste in den Griff zu bekommen.


Das Leben zu Hause
Es kann zu Schwierigkeiten bei der Bewältigung selbst auferlegter und gesellschaftlicher Anforderungen kommen, z. B. bei der Körperpflege und der Aufrechterhaltung von Freundschaften und Beziehungen. Außerdem besteht die Tendenz, Regeln zu brechen, was zu Konflikten mit dem Gesetz führen kann. Der Versuch, extreme Ängste zu bewältigen und gleichzeitig die Anforderungsvermeidung zu unterdrücken, kann anstrengend sein, sich auf das Energieniveau auswirken und möglicherweise zu Depressionen führen. Es kann eine große Abhängigkeit von den Eltern oder der Person, mit der der Mensch mit PDA sein Leben teilt, bestehen, insbesondere hinsichtlich emotionaler Unterstützung und praktischer Hilfe aufgrund beeinträchtigter exekutiver Funktionen. Erwachsene mit PDA benötigen außerdem regelmäßige Aus- und Alleinzeiten, um ihr Energielevel wieder anzuheben. Dabei ist es für sie von Vorteil, wenn zu Hause ein anforderungsfreier Rückzugsort existiert.


Berufsleben
PDA-Eigenschaften können das Berufsleben beeinträchtigen, wenn Arbeitgeber Menschen mit PDA als arrogant oder undiszipliniert betrachten. Autoritäten und Hierarchien am Arbeitsplatz werden von ihnen möglicherweise missachtet und sie neigen dazu, nach dem Motto „entweder ich mache es so, wie ich es will, oder ich mache es gar nicht“ zu handeln. Deshalb ist es oft schwierig für sie, konventionelle Arbeitsabläufe zu bewältigen. Menschen mit PDA sind möglicherweise erfolgreicher, wenn sie sich selbständig machen oder ihr eigenes Unternehmen führen, da sie dann weniger das Gefühl haben, die Kontrolle zu verlieren. In einem Anstellungsverhältnis kann es bei Menschen mit PDA zu Prokrastination kommen, aber auch zu Problemen mit der Fertigstellung von Projekten und der Einhaltung von Fristen. Auch der angemessene Umgang mit Wünschen bzw. Vorgaben des Vorgesetzten, wie z. B. Höflichkeit gegenüber Kunden, kann für Personen mit PDA schwierig sein. Erwachsene mit PDA fühlen sich oft in ihrem Job gefangen und brauchen Abwechslung. Wir haben viele Arbeitgeber- und Berufswechsel beobachtet.


Strategien bei PDA
Viele Strategien für den Umgang mit PDA bei Kindern gelten auch für Erwachsene. Dazu gehört, der Person Optionen und Wahlmöglichkeiten anstelle von Anweisungen anzubieten. Wir empfehlen auch, statt imperativer (auffordernder) Sprache deklarative (beschreibende bzw. erklärende) Sprache zu verwenden (Murphy, 2020). „Du musst dein Chaos im Bad aufräumen!“ (auffordernde Sprache) könnte zum Beispiel zu „Das Bad muss sauber und aufgeräumt sein.“ (beschreibende/erklärende Sprache) umformuliert werden.


Um Aufgaben beginnen und erledigen zu können, kann es Personen mit PDA helfen, sich etwas vorzustellen, dass sie von der eigentlichen Aufgabe ablenkt. Dies könnte zum Beispiel ein Rollenspiel sein, bei dem sie so tun, als würden sie während der Erledigung der Aufgabe für eine Dokumentation gefilmt. Auch Gedankenspiele oder das Hören eines Podcasts können dabei helfen, eine Tätigkeit praktisch nebenbei (im Autopilotmodus) auszuüben. Diese Strategien können als wirksame Gedankenstopper gegen Ängste eingesetzt werden.


Wir empfehlen außerdem, einer Online-PDA-Gruppe auf Facebook (Anmerkung der Übersetzerin: oder anderen sozialen Medien) beizutreten, um Unterstützung von Menschen zu erhalten, die sich denselben täglichen Herausforderungen stellen müssen.


Quellen
Mit freundlicher Genehmigung von Prof. Tony Attwood und Dr. Michelle Garnett: https://attwoodandgarnettevents.com/category/attwood-and-garnett-blog/

Egan, Linenberg and O’Nions (2019). Journal of Autism and Developmental Disorders 49
Gillberg C. (2014). Commentary: PDA Journal of Child Psychology and Psychiatry, 55
Newson E, Le Maréchal K, & David C. (2003). Pathological demand avoidance syndrome: a necessary distinction within the pervasive developmental disorders Archives of Disease in Childhood; 88
O’Nions E, Christie P, Gould J, Viding E, Happé F (2014). Journal of Child Psychology and Psychiatry 55
White et al. (2022) untersuchten in zwei Online-Umfragen bei erwachsenen Personen aus der Allgemeinbevölkerung die Bedeutung von autistischen Merkmalen und Ängsten als Prädiktoren für die Vermeidung von Anforderungen. (2022). Journal of Autism and Developmental Disorders 51
Woods R. (2019). Good Autism Practice 20


Ressourcen
www.pdasociety.org.uk
Anlaufstelle Information und Beratung: FAPDA (Fachverein PDA-Autismus-Profil) https://pda-autismus-verein.org/

Bücher
Ein glücklicheres Leben für dein Kind mit PDA von Alice Running.
Zirkus im Kopf von Liv Cadler/Saskia S. Neu

Declarative Language Handbook (2020) Linda K. Murphy ISBN: 9781734516203
Being Julia: A Personal Account of Living with PDA (2021). By Ruth Fidler and Julia Daunt. Published by Jessica Kingsley Publishers.
PDA by PDAers: From Anxiety to Avoidance and Masking to Meltdowns (2019). Ed. Sally Cat. Published by Jessica Kingsley Publishers.
PDA Paradox; The Highs and Lows of My Life on a Little-Known Part of the Autism Spectrum. (2019). By Harry Thompson. Published by Jessica Kingsley Publishers.

 

 

 
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