Ein Tropfen, der alles verändert.

PDA: Diagnose und Unterstützung

13. Februar 2025

Von Dr. Michelle Garnett und Prof. Tony Attwood – Übersetzung: Saskia Paasch für Fachverein PDA-Autismus Deutschland


Wenn sich Menschen mit PDA mit dem Wunsch nach einem Gutachten, Unterstützung oder einer Behandlung an Diagnostik-, Therapie- und Unterstützungsstellen wenden, stehen letztere oft vor der Frage, wie sie angesichts der vielen unbeantworteten Fragen zum Thema überhaupt helfen können. In diesem Artikel teilen wir unser eigenes PDA-Konzept, Dinge, die man bei der PDA-Diagnostik berücksichtigen sollte sowie Unterstützungsformen für Kinder und Erwachsene mit Anforderungsvermeidung, einschließlich einer Ressourcenliste, die unsere wichtigsten Empfehlungen zum Thema beinhaltet.

PDA diagnostizieren
Über viele Jahre hinweg haben wir die Forschung zu PDA verfolgt, außerdem mit einzelnen Personen mit PDA sowie mit deren Familien gesprochen, Autobiografien gelesen und PDA-Fachpersonen aufgesucht. Hier stellen wir nun Ideen für Fachkräfte vor, die wir in unserer eigenen Praxis als nützlich und sinnvoll empfunden haben. Wir verstehen PDA als ein relativ seltenes, aber erkennbares und messbares Profil, das im Moment, genau wie Autismus, auf der Grundlage von Verhaltensweisen und nicht anhand von physiologischen Merkmalen diagnostiziert wird. Derzeit sind die Ursachen von PDA nicht bekannt, wobei jedoch mehrere verschiedene Gründe vorzuliegen scheinen – einschließlich genetischer, neurologischer und psychologischer Faktoren sowie einer Wechselwirkung zwischen diesen. Auf der Grundlage von Forschungsergebnissen, aber auch unserer eigenen klinischen Erfahrungen verstehen wir PDA als eine Unterform von Autismus, die sich durch folgende Merkmale äußert (Merkmale, die bereits in gewisser Form wissenschaftlich gestützt sind, sind mit einem Sternchen gekennzeichnet. Zu allen anderen Merkmalen gibt es noch keine Forschung hinsichtlich eines Zusammenhangs mit PDA, sie basieren stattdessen auf unserer klinischen Erfahrung und dem Austausch mit Fachkräften.):


• Menschen mit PDA zeigen oft positive Persönlichkeitsmerkmale wie Charisma, haben einen guten Sinn für Humor und gelten bei anderen als sympathisch, gesprächig und unterhaltsam, solange keine Anforderungen an sie gestellt werden.
• Die Diagnosekriterien für Autismus werden erfüllt.*
• Sie haben Schwierigkeiten damit, Verhaltensanforderungen nachzukommen, egal ob diese von anderen ausgehen oder ob sie sie an sich selbst stellen. Dazu zählen unter anderem Zähneputzen oder Schuhe anziehen. Es ist durchaus möglich, dass dieselbe Person diesen Verhaltensanforderungen an einem Tag nachkommen kann und an einem anderen nicht.*
• Sie sind in der Lage, soziale Fähigkeiten wie u. a. Komplimente einzusetzen, um Anforderungen von anderen abzuwehren.*
• Sie haben Probleme damit, die eigene Identität zu verstehen.*
• Sie können sozial unerwartetes bzw. unerwünschtes Verhalten, wie z. B. lautes Fluchen, an den Tag legen, um Anforderungen abzuwehren.*
• Sie können Freundschaften schließen, haben aber aufgrund von Schwierigkeiten mit dem Prinzip der Wechselseitigkeit bzw. der Gegenseitigkeit (Reziprozität) Probleme damit, sie aufrechtzuerhalten.*
• Sie schlüpfen gern in andere Rollen (Rollenspiele).*
• Sie haben eine geringe kognitive Empathiefähigkeit (die Fähigkeit, nonverbale Kommunikation zu lesen), welche sich vor allem im fehlenden Verständnis von sozialen Hierarchien zeigt.*
• Sie haben gleichzeitig eine hohe affektive Empathiefähigkeit (die Fähigkeit, mit anderen Menschen mitzufühlen), die jedoch im Flucht-/Angriffs- oder Erstarrungsmodus unzugänglich sein kann. Sie sind dann nicht in der Lage, die Auswirkungen ihres eigenen Verhaltens auf andere zu berücksichtigen.
• Sie empfinden Traurigkeit und/oder Reue, wenn die Erregung in diesem Überlebensmodus wieder gesunken ist.
• Ihre Spezialinteressen (Obsessionen) beziehen sich auf Themen, die sich im Laufe der Zeit häufig ändern können, meistens jedoch auf die Vermeidung von Anforderungen und auf bestimmte Personen.*
• Ihr sensorisches Verarbeitungssystem weicht von der Norm ab.
• PDA steht in engem Zusammenhang mit ADHS. Es sollte deshalb auch eine ADHS-Diagnostik stattfinden, wenn noch keine Diagnose vorliegt.
• Sie sind nicht in der Lage Alltagsaufgaben zu bewältigen (Nicht „Ich will nicht“ sondern „Ich kann nicht“) und haben, trotz mindestens durchschnittlicher kognitiver Intelligenz, Probleme mit den Exekutivfunktionen (Verhaltenssteuerung unter Berücksichtigung der Umwelt). Dies führt zu Versagenserfahrungen, die wiederum zu einem Mangel an Selbstbewusstsein führen und zu einer Überkompensation desselben durch den Versuch, andere zu kontrollieren. Mit der Zeit kommt es vermutlich durch die Erwartung eines Misserfolgs zu einer sekundären Vermeidung von Aufgaben.
• Sie haben Probleme mit allen Aspekten der Selbstregulation.* Sie sind sich dessen bewusst und empfinden große Scham deshalb.
• Sie spüren die eigene Not sehr stark.
• Sie neigen dazu, sozial engagiert zu sein und wünschen sich Freundschaften*, finden es aber aufgrund der Anforderungsvermeidung und des Bedürfnisses, Situationen und andere Menschen zu kontrollieren, schwierig, diese Freundschaften aufrechtzuerhalten.
• Sind sehr ängstlich, besonders, wenn es um Unvorhergesehenes geht*, aber nicht zwingend dazu fähig, die subjektiven Gefühle der Angst zu beschreiben oder zu verstehen und die Verbindung zwischen Angst und Anforderungsvermeidung herzustellen. Es ist möglich, dass keine Angststörung diagnostiziert wird, weil die Ängste durch die Vermeidung von Anforderungen effektiv bewältigt werden.
• Sie haben ein atypisch funktionierendes autonomes Nervensystem (ANS): überreizter Sympathikus (SNS) und unterreizter Parasympathikus (PNS)*
• Sie haben einen niedrigen Vagustonus* (Anmerkung der Übersetzerin: Dieser wird mit erhöhter Angst, Furcht und Isolation in Verbindung gebracht).
• Sie können traumatisiert sein.
• Sie haben im Laufe der Zeit die sozialen und antisozialen Verhaltensweisen gelernt, die am erfolgreichsten zur Vermeidung von Anforderungen führen. Diese Verhaltensweisen werden im Laufe der Zeit immer stärker.*
• Sie neigen dazu, andere zu kopieren, zu maskieren und sich zu verstellen.*
• Sie sind durch Ängste, Sozialisierung und Maskieren erschöpft und anfällig für autistisches Burnout.*


Wir empfehlen Diagnostikstellen die folgende exzellente Quelle:
https://www.pdasociety.org.uk/wp-content/uploads/2023/02/Identifying-Assessing-a-PDA-profile-Practice-Guidance-v1.1.pdf

Unterstützung für Kinder und Erwachsene mit PDA sowie deren Familien
Auf der Grundlage unseres PDA-Konzepts, gehen wir jeden der oben genannten Punkte mit dem Kind oder der erwachsenen Person mit PDA sowie deren Familienmitgliedern und gegebenenfalls der Person, mit der sie liiert ist, durch und können so individuell entscheiden, wo am besten interveniert werden kann und welche Prioritäten dabei gesetzt werden sollten. Nachfolgend eine kleine Zusammenfassung mit hilfreichen Ideen:


Anfangs
• Anerkennung und Unterstützung des täglichen extremen Stresses und der Schwierigkeiten der Familie, einschließlich des Kindes/der erwachsenen Person mit PDA und der Geschwister/Person, mit der die betroffene Person das Leben teilt.
• Besprechung der Ergebnisse des Gutachtens und der darauf basierenden Hypothesen für die Gründe des Beginns und der Fortdauer der Anforderungsvermeidung.
• Systematische und strukturierte Vermittlung von Wissen (Psychoedukation) über Autismus, PDA als Autismus-Profil, ADHS, Maskieren, Angst und inwiefern Anfordungsvermeidung durch erkannte Transaktionsmuster aufrecht erhalten werden kann.
• Vermittlung von Strategien, die dabei helfen, mit PDA umzugehen.
• Hintergrundstress vermindern – Anpassungen der Umgebung an sensorische Probleme.
• Behandlung von ADHS – die erste Wahl bei ADHS ist die medikamentöse Behandlung, Überweisung an eine psychiatrische Fachkraft.
• Behandlung von Ess- und Schlafstörungen.
• Gegebenenfalls Behandlung der Angstzustände mit Medikamenten.

Später:
(wenn die Person mit PDA wieder isst, schlafen kann und besser reguliert ist)
• Individuell abgestimmte Wissensvermittlung zum Thema PDA an die Person mit PDA (Psychoedukation) im breiteren Kontext des Verständnisses ihrer Selbstidentität.
• Hilfe beim Identifizieren von Ängsten und gegebenenfalls Behandlung von Trauma und Alexithymie (Anmerkung der Übersetzerin: Schwierigkeiten, Gefühle zu lesen oder auszudrücken, auch Gefühlskälte genannt).
• Erlernen von Strategien zur Reduzierung der Anspannung, die zum Einsetzen des Flucht- /Kampf- oder Erstarrungsmodus führen kann.
• Beginn einer sanften Expositionstherapie gegen Ängste, wenn die Person bereit dazu ist. Die Ziele der Therapie sollten von der Person selbst festgelegt werden.

Erwachsene mit PDA:
Die Planung für die Unterstützung und Therapie einer erwachsenen Person mit PDA ähnelt der für Kinder, es können aber auch die Person, mit denen die von PDA betroffene Person liiert ist, oder Betreuungspersonen und Familienmitglieder mit einbezogen werden, je nachdem, wie stark diese in das Leben der erwachsenen Person eingebunden sind.
Die klinische Erfahrung zeigt, dass sich PDA sehr unterschiedlich auswirkt. Einige Erwachsene sind in der Lage, PDA zu „überwinden“ und Lebensziele zu erreichen, die ihnen wichtig sind: z. B. eine Ausbildung, einen Arbeitsplatz, Freundschaften, eine Person, mit der sie ihr Leben teilen und eine Familie gründen. Dabei ist es sehr wichtig, dass die therapeutischen Ziele realistisch sind und von der erwachsenen Person mit PDA selbst gesetzt werden. Andere Erwachsene benötigen weiterhin ihr ganzes Leben lang erhebliche Unterstützung bei der Bewältigung alltäglicher Aufgaben.


Ressourcen
Es gibt viele gute Informationsquellen. Hier einige unserer Favoriten:
Anlaufstelle Information und Beratung: FAPDA (Fachverein PDA-Autismus-Profil) https://pda-autismus-verein.org/

Ein glücklicheres Leben für dein Kind mit PDA von Alice Running.
Zirkus im Kopf von Liv Cadler/Saskia S. Neu

Online-Information:
Die PDA Society im Vereinigten Königreich hat eine Bibliothek mit hilfreichen, evidenzbasierten Quellen zu PDA entwickelt. Wir empfehlen folgende:
PDA Society
Als Einstieg sehr empfehlenswert ist z. B. das Dokument Praxisleitfaden:
Practice Guidance Document
Der amerikanische Psychologe Dr. Ross Greene hat ein Betreuungsmodell namens Collaborative & Proactive Solutions (CPS, deutsch: Kooperative und Proaktive Lösungen) entwickelt, das sich auf Forschung und Praxis stützt und auf Zusammenarbeit und Mitgefühl beruht. Er verwendet nicht den Begriff PDA, sondern spricht stattdessen von Kindern, bei denen herausforderndes Verhalten auftritt, wenn die an sie gestellten Anforderungen und Erwartungen ihre Fähigkeit übersteigen, angepasst zu reagieren. Seine Website enthält ausgezeichnete praktische Ressourcen für Eltern, Lehrkräfte und Gesundheitsfachleute.
livesinthebalance.org
Weitere Bücher: Kinder und Jugendliche
Collaborative Approaches to Learning for Pupils with PDA: Strategies for Education Professionals (2018) by Ruth Christie and Phil Fidler, published by Jessica Kingsley Publishers.
Super Shamlal – Living and Learning with Pathological Demand Avoidance (2019) by K I Al-Ghani, published by Jessica Kingsley Publishers.
Dr Ross Green (2021). The Explosive Child [Sixth Edition]: A New Approach for Understanding and Parenting Easily Frustrated, Chronically Inflexible Children. Published by Harper Collins, US.
Bücher: Erwachsene:
Being Julia: A Personal Account of Living with PDA (2021). By Ruth Fidler and Julia Daunt. Published by Jessica Kingsley Publishers.
PDA by PDAers: From Anxiety to Avoidance and Masking to Meltdowns (2019). Ed. Sally Cat. Published by Jessica Kingsley Publishers.
PDA Paradox; The Highs and Lows of My Life on a Little Known Part of the Autism Spectrum. (2019). By Harry Thompson. Published by Jessica Kingsley Publishers.
Es gibt viele weitere tolle Bücher zum Thema PDA, die wir empfehlen können. Sie sind alle auf der Internetseite der PDA Society gelistet:
PDA Society Book List
Bibliografie
Bettelheim, Bruno. The Empty Fortress: Infantile Autism and the Birth of the Self. New York: Free Press, 1967.
Calvo F, Karras BT, Phillips R, Kimball AM, Wolf F. Diagnoses, syndromes, and diseases: a knowledge representation problem. AMIA Annu Symp Proc. 2003; 2003:802. PMID: 14728307; PMCID: PMC1480257.
Christie, R. & Fidler, F. (2018). Collaborative Approaches to Learning for Pupils with PDA: Strategies for Education Professionals. Jessica Kingsley Publishers, London, UK.
Eaton, J. & Weaver, K. (2020). An exploration of the Pathological (or Extreme) Demand Avoidant profile in children referred for an autism diagnostic assessment using data from ADOS-2 assessments and their developmental histories. GAP, 21 (2), 33- 51
Gillberg C. (2014). Commentary: PDA – Public display of affection or pathological demand avoidance? Reflections on O’Nions et al. (2014). (2014). Journal of Child Psychology and Psychiatry, 55(7), 769–770. https://doi.org/10.1111/jcpp.12275
Gore Langton E., Frederickson N. (2018). Parents’ experiences of professionals’ involvement for children with extreme demand avoidance. International Journal of Developmental Disabilities, 64(1), 16–24. https://doi.org/10.1080/20473869.2016.1204743
Kerns C. M., Winder-Patel B., Iosif A. M., Nordahl C. W., Heath B., Solomon M., Amaral D. G. (2020). Clinically significant anxiety in children with autism spectrum disorder and varied intellectual functioning. Journal of Clinical Child & Adolescent Psychology. Advance online publication. https://doi.org/10.1080/15374416.2019.1703712
Kildahl, A. N., Helverschou, S. B., Rysstad, A. L., Wigaard, E., Hellerud, J. M., Ludvigsen, L. B., & Howlin, P. (2021). Pathological demand avoidance in children and adolescents: A systematic review. Autism, 25(8), 2162–2176. https://doi.org/10.1177/13623613211034382
Milton D. E. (2012). „Natures answer to over-conformity“: Deconstructing pathological demand avoidance. Autism Experts. https://kar.kent.ac.uk/62694/
Milton D. E. (2013). „Natures answer to over-conformity“: Deconstructing pathological demand avoidance. Autism Experts. https://kar.kent.ac.uk/62694/
Mitchell, P. (2017). Mindreading as a transactional process: Insights from autism. In V. Slaughter & M. Rosnay (Eds.), Environmental influences on ToM development, (pp. 157– 172). Hove, UKPsychology Press.
Newson E, Le Maréchal K, & David C. (2003). Pathological demand avoidance syndrome: a necessary distinction within the pervasive developmental disorders Archives of Disease in Childhood; 88:595-600.
Orm S., Løkke J. A., Løkke G. E. H. (2019). Pathological Demand Avoidance: en transaksjonell atferdsanalytisk forklaringsmodell uten patologi [Pathological demand avoidance: A transactional behaviour analytic explanatory model without pathology]. Norsk Tidsskrift for Atferdsanalyse, 46(1), 29–43. http://hdl.handle.net/11250/2619601
O’Nions E, Christie P, Gould J, Viding E, Happé F (2014) Development of the ‘Extreme Demand Avoidance Questionnaire’ (EDAQ): preliminary observations on a trait measure for pathological demand avoidance. J Child Psychol Psychiatry 55:758–768
O’Nions, E, · Gould, J, · Christie, P, · Gillberg, C. Viding E, & · Happé, F. (2016) Identifying features of ‘pathological demand avoidance’ using the Diagnostic Interview for Social and Communication Disorders (DISCO), Eur Child Adolesc Psychiatry 25:407–419 DOI 10.1007/s00787-015-0740-2
Reilly C., Atkinson P., Menlove L., Gillberg C., O’Nions E., Happe F., Neville B. G. (2014). Pathological demand avoidance in a population-based cohort of children with epilepsy: Four case studies. Research in Developmental Disabilities, 35(12), 3236–3244. https://doi.org/10.1016/j.ridd.2014.08.005
Sally Russell OBE (2023, personal communication). Chair of the PDA Society, UK.
Stuart L., Grahame V., Honey E., Freeston M. (2020). Intolerance of uncertainty and anxiety as explanatory frameworks for extreme demand avoidance in children and adolescents. Child and Adolescent Mental Health, 25(2), 59–67. https://doi.org/10.1111/camh.12336


Quelle: Mit freundlicher Genehmigung von Prof. Tony Attwood und Dr. Michelle Garnett: https://attwoodandgarnettevents.com/category/attwood-and-garnett-blog/

 

 

 
de_DEDeutsch