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Was ist Autismus?

29. September 2024

Von Dr. Michelle Garnett und Prof. Tony Attwood – Übersetzung: ProZ-Probono-Netzwerk

Was ist Autismus?

Es gibt so viele Wörter für ASS, einschließlich Autismus, hochfunktionaler Autismus, Asperger-Syndrom und Autismus-Spektrum-Störung, um nur einige zu nennen. Das am häufigsten verwendete ist Autismus-Spektrum-Störung (ASS). ASS ist ein Begriff, mit dem einige einzigartige Aspekte in Bezug darauf beschrieben werden, wie das Gehirn einer autistischen Person funktioniert. Es ist bedauerlich, dass der Begriff Autismus-Spektrum-Störung das Wort „Störung“ beinhaltet. Denn wie ein kleiner Junge mit ASS schon sagte: „Aber mein Gehirn ist immer sehr ordentlich.“ Wir würden ASS lieber als ASD (Autismus-Spektrum-Differenzierung) bezeichnen und uns auf die „Differenzierung“ konzentrieren. Vielleicht können Sie, wenn Sie ASS hören, ja auch an Autismus-Spektrum-Differenzierung denken! Wir werden aber die Begriffe Autismus und ASS in diesem Blogbeitrag verwenden.

Was sind also die Unterschiede?

Zusammengefasst könnte man sagen, dass autistische Personen Gehirne haben, die nicht angeboren oder intuitiv verstehen, wie man mit anderen Menschen interagiert. Für soziale Interaktionen muss man z. B. wissen, wie man ein Gesicht liest, Körpersprache benutzt, ein Gespräch beginnt, warum wir grüßen und Namen von Menschen verwenden, und wie man daraus ableitet, was die Leute denken und erwarten. Wie groß diese Differenzierung ist, reicht von überhaupt keiner Sozialkompetenz, über das theoretische Wissen, was soziale Interaktion ist und wie sie abläuft, bis hin zur Fähigkeit, sozial einigermaßen gut zu interagieren, indem andere Bereiche des Gehirns hierfür einsetzt werden. Zusätzlich zu diesen sozialen Schwierigkeiten haben autistische Personen meist Probleme damit, die Informationen zu verarbeiten, die über die Sinne ins Gehirn gelangen, und/oder zeigen starres und sich wiederholendes Verhalten. Mit anderen Worten, sie kommen nicht gut mit Veränderungen oder Übergängen zurecht und neigen dazu, Dinge immer wieder auf die gleiche Weise zu tun.

ASS, Stufe 1, 2 & 3.

Der Schweregrad, wie eine Person ASS erlebt, wird derzeit als Stufe 1, 2 oder 3 bezeichnet, basierend darauf, wie viel Unterstützung benötigt wird. Die Unterstützungsstufen werden separat für die beiden Schlüsselkomponenten von ASS beschrieben: soziale Schwierigkeiten und Rigidität/repetitives Verhalten (RRBs). Stufe 1 wird zugewiesen, wenn vergleichsweise wenig Unterstützung erforderlich ist, während bei Stufe 3 erhebliche Unterstützung benötigt wird. Die Zuteilung zu einer Stufe kann sich im Laufe der Zeit  ändern – je nach Stressfaktoren, sozialer Unterstützung und Bewältigungsstrategien der Person.

Was verursacht Autismus?

In den meisten Fällen ist Autismus genetisch bedingt, das heißt, wird über die Gene einer Familie weitergegeben. Bestimmte genetische Bedingungen sind dafür bekannt, dass sie Autismus verursachen, zum Beispiel das Fragile-X-Syndrom. Es gibt aber auch noch andere Faktoren, die Autismus auslösen, z. B. wird ASS von älteren Eltern häufiger vererbt, und auch ungünstige Ereignisse während der Geburt und bestimmte medizinische Faktoren, wie z. B. Tuberöse Sklerose, können ASS begünstigen.

Gibt es Autismus bei Jungen und Mädchen?

Je mehr unser Bewusstsein und Verständnis für die subtilen Symptome von ASS voranschreiten, desto mehr Menschen werden mit diesem Leiden diagnostiziert. Aktuelle Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass bereits 1 von 52 Personen eine ASS-Diagnose hat (CDC, 2021). Und je mehr sich unser Bewusstsein und unser Verständnis für die Art und Weise verstärkt, wie sich ASS der Stufen 1 und 2 bei Mädchen manifestiert, je mehr Mädchen werden mit ASS diagnostiziert. Während ASS dafür bekannt ist, dass es bei Jungen häufiger auftritt, liegt unsere aktuelle Schätzung des Geschlechterverhältnisses bei 1 Mädchen pro 2 Jungen (Rutherford, et al., 2016), wobei die Schätzung bislang bei einem Verhältnis von 1:4 lag (APA, 2013).

Andere Leiden, die häufig im Zusammenhang mit Autismus auftreten

Es ist selten, dass nur Autismus festgestellt wird, denn es handelt sich um einen Gehirnunterschied, der häufig gemeinsam mit anderen Gehirnunterschieden zusammentrifft. Geistige Behinderung, Schwierigkeiten, sich verbal auszudrücken, ADHS und spezifische Lernbehinderungen, wie z. B. Dyslexie, treten häufig im Zusammenhang mit Autismus auf. Auch die Gene für psychische Erkrankungen, wie z. B. Depressionen, kommen häufig in Familien vor, die die Gene für Autismus in sich tragen. Daher erleben autistische Personen auch häufig Angst und/oder Depressionen, was teilweise auf genetische Vererbung zurückzuführen ist.

Autismus verstehen

Es ist wichtig, daran zu denken, dass Autismus keine Krankheit und somit keine Heilung oder Behandlung notwendig ist (wobei einige der gleichzeitig auftretenden Leiden, wie Angststörungen, möglicherweise einer Behandlung bedürfen). Autismus ist ein Unterschied im Gehirn, und natürlich kann dieser Unterschied auch das Leben erschweren. Es ist jedoch wichtig, die Talente und Stärken, die Teil des Profils von Autismus sind, gleichermaßen zu erkennen und zu wissen, dass die meisten Menschen mit Autismus aktive Mitglieder der Gesellschaft mit erfolgreichen Zielen und Karrieren werden sowie erfüllende Beziehungen führen und vielgeliebte Familien haben können.

Das Hauptproblem für Menschen mit Autismus ist oft nicht der Autismus selbst, sondern die Ignoranz und das Missverständnis, die in unserer Gesellschaft immer noch über Autismus verbreitet sind. Autismus und die Art und Weise, wie Autismus sich bei Ihnen, Ihrem Kind oder Ihrem geliebten Menschen zeigt, zu verstehen, ist wichtig, um sich selbst oder diese Person zu unterstützen und ihre Stimme zu sein, wenn andere Menschen dieses Verständnis benötigen.

Jede Person mit Autismus hat eine einzigartige Persönlichkeit und eindeutige Vorlieben, Abneigungen, Begabungen, Stärken und Schwierigkeiten. Wir sollten diese Personen ermutigen, erstklassige autistische Menschen zu sein, anstatt sich selbst als zweitklassiger neurotypischer Mensch zu sehen.

Quelle: Mit freundlicher Genehmigung von Prof. Tony Attwood und Dr. Michelle Garnett: https://attwoodandgarnettevents.com/category/attwood-and-garnett-blog/

 

 

 
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